Über Lavaströme aufwärts

haiti 1

Datum: 07. Februar 2010
Uhrzeit: 12:14 Uhr
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Nachdem ich den Artikel über den letzten Vulkan Haitis, den Morne La Vigie, veröffentlicht hatte,möchte ich der theoretischen Kolumne noch einen Erlebnisbericht nachschieben, da wir indessen den Vulkan besucht haben.

Begonnen hatte es schon vor Mirebalais mit der jungen, totgeschlagen Boa-Riesenschlange, die mich so gleich zum Schreiben eines traurigen Artikels inspirierte. Wenig später trafen wir über eine höckerige Schlammpiste in Mirebalais ein. Mirebalais ist ein kleines Städtchen in den Bergen mit gegen 10’000 Einwohnern, das stark belebte Regionalzentrum des östlichen Grenzdepartements Centre. Ich freute mich schon auf das kleine, familiäre Hotel Le Mirage, das ich von früheren Besuchen her bereits kannte, Frowin genoss ein Bad im Schwimmbecken unter dichten Tropenblumen, mich zog es ins heiße Wasser in der Badewanne, und Alson meldete sich über Nacht ab, um seine Mutter zu besuchen, die hier lebt. Nach einem herrlichen Reisgericht verschlang Frowin seine Abendlektüre, ich schrieb dank dem funktionierenden WIFI (drahtloser Internet-Anschluss) den Boa-Artikel und sandte ihn ab an die Presse.

Die Nacht war laut, denn bis nach Mitternacht dröhnte in unvorstellbarer Lautstärke Musik über den benachbarten Stadtplatz, wo sich in großer Schar die Jugend vergnügte. Das ist normal in Haiti, denn sonst haben die Bewohner ja nichts – zuhause gibt es nicht einmal Strom. Auch der Musikstil war angepasst, mehr Rap und Raggae als haitianischer Compas, aber wir sind uns beides gewöhnt, Lautstärke und Musikgenre, sodass wir dennoch einschlafen können. Wer es ruhiger mag, der findet neuerdings auch ein zweites Hotel neben der Stadt: das Plaza ist allerdings doppelt so teuer.

Am Morgen genießen wir ein herrliches Frühstück mit frischem Jadec-Saft (ähnlich Grape-Fruit), Kaffee, Toast mit Mamba (Erdnussbutter), einer phantasievoll garnierten Omelette und mehr. Nur Alson erschien nicht rechtzeitig, was kaum erstaunte. So fuhren wir mit einer Halbstunde Verspätung talabwärts, bestückt mit Ausdrucken von Satelliten-Aufnahmen aus Google-Earth. So pflege ich mich bei Ausflügen in diesem Land zu behelfen, da es hier keine Karten gibt. Die große Brücke war eingestürzt, wir überquerten den ersten, großen Fluss über die Notbrücke, dann ging es zwischen Löchern und Gräben hindurch durch herrliche Landschaften wenige Kilometer talabwärts bis zur großen Abzweigung nach Saut-d’Eau. Die Schotterpiste führt etwa sieben Kilometer steil aufwärts, und wir werden umhergeschüttelt wie in einer Siebmaschine. Kurz vor dem berühmten Voudou-Wallfahrtsort Saut-d’Eau trafen wir auf eine der vielen Schulen, die es jetzt zum Glück bis hoch in die Berge hinauf gibt. Denn ein großes Problem war ja, dass in Haiti die meisten Kinder gar nicht zur Schule gehen konnten, weil sie abseits wohnten. Andere können die Schule allerdings trotzdem nicht besuchen, weil sie kein Geld haben und die Schule kostet…

Im Bergdorf angekommen, parkieren wir das Auto vor dem Polizeiposten, nach höflicher Anfrage natürlich. Ein kleines Hotel daneben ist geschlossen, es werde nur zur Zeit der Voudou-Wallfahrten geöffnet. Der Polizist und der bald erscheinende Bürgermeister sind die einzigen, die den „Morne La Vigie“ kennen, alle anderen schon in ganz Haiti befragten Personen kannten den Berg nicht, ja nicht einmal die Bewohner der Bergflanken selbst kannten den Namen. Ich hatte in einem alten Buch einen Artikel über diesen letzten Vulkan in Haiti gelesen, die schwarzweißen, unscharfen Fotos stammten wohl noch aus der Zeit der Holzkameras. Als ehemaligen Geographie-Geologie-Lehrer interessierte mich die Geschichte, und ich wollte natürlich auch die alten Fotos durch bessere ersetzen. Das war der Grund unseres heutigen Ausfluges.

Man weist uns auf einen Fußweg, der leicht durch eine Erbsenpflanzung in schwarzer Erde ansteigt und nur noch für Enduros befahrbar wäre. Da die Schüler hier Enduros noch nicht kennen und wohl auch kein Geld haben dafür, machen die es einfacher und billiger. Esel & Co. sind ebenso geländegängig und machen erst noch weniger Abgase und Lärm, auch braucht man für sie keinen Helm. So machen wir es mit Schirmmütze statt Sturzhelm und gelangen bald an einen Fluss. In einer Bucht klatschen die Weiber Wäsche und Geschichten, ihr kreolisches Geklapper überstürzt sich fast, aber sie reagieren freundlich und lachend, als ich den Arm hebe und rufe „Bonjou Medanmes, kòman w ye?“ Eine winkt ebenfalls und antwortet lachend „M’pa pi mal, gras a Die!“ (allgemeine Grußformel: Guten Tag, wie gehts? – Dank Gott, es geht gut!)

Die Frauen beraten bestimmt, was wir wohl machen werden und beobachten uns belustigt. Wir beraten uns auch, meine Freunde ziehen Schuhe und Socken ab und binden sie auf den Kopf. Ich würde es barfuß nicht schaffen, habe ich doch extrem empfindliche Sohlen und ertrage keine stechenden Steine. Selbst zum Baden im Meer trage ich Segelfinken aus Gummi, wenn der Boden nicht aus ganz feinem Sand besteht. Das nächstemal muss ein Pferd drin liegen, so wie bei den Einheimischen. Während Frowin schon gegen die Flussmitte vordringt, nimmt mich Alson kurzerhand auf den Rücken und trägt mich rüber, auch wie ein Pferd! Wie der das nur schafft, und zudem noch barfuß – ich lerne meinen Boy von einer anderen Seite kennen und bewundere ihn. Ein paar Meter daneben tänzelt sich Frowin langsam durch die ordentlich reißende Flut vorwärts, er steht bis zum Bauch im Wasser. Auch ich ziehe meine Füße hoch so weit es geht, kann aber trotzdem nicht verhindern, dass die neuen Wanderschuhe nass werden.

Endlich landen wir drüben, die Frauen lachen und klatschen erneut – diesmal mit den Händen. Frowin setzt sich noch ein paar Minuten in die Sonne, um Haut und Hosen zu trocknen, mein „Pferd“ Alson braucht das nicht und geht weiter, gespannt was noch kommt. Ich betrachte natürlich die Gerölle im Fluss. Sie sind groß, vor allem aber schwarz: der Fluss kommt eindeutig aus vulkanischem Gebiet. Gerölle und Bomben sind hier kaum zu unterscheiden. Mit Frowin steige ich Alson nach, der oben wartet.

Doch es folgen weitere Bäche und größere Flüsse, stilgerecht. Ich darf schon wieder reiten. Mir wird immer klarer, warum die Einheimischen hier mit Pferden marschieren. Auch das Wasser der Flüsse ist klar und kalt, wie zum Trinken. Nur kleine Mädchen machen das zu Fuß, barfuß wie wir. Die müssen ja dicke Sohlen an den Füssen haben, wie meine Wanderschuhe!

Der Weg führt stets leicht aufwärts, an zahlreichen kleinen Bauernhäuschen vorbei. Jedes hat seinen Speicher, auf Beinen, versteht sich, damit die Ratten nicht rein können. Fast wie im Wallis, nur die steinernen Mäuseplatten fehlen! (Die Schlangen, die ebenfalls Ratten fressen würden, sind ja totgeschlagen… Sie würden vielleicht Speicherbeine ersparen.)

Vorbei auch an vulkanischen Bomben und anderen Zeugen wie Lavafetzen, Schlacken und Aschenspuren. Eine gigantische Lavabombe liegt neben dem Weg, mitten im Kulturfeld. Durch Urkraft wurde sie einst hierher transportiert, der hausgrosse Koloss flog damals 16 Kilometer weit durch die Luft, heute zu groß um von den Bauern wegtransportiert zu werden. Ein eindrucksvolles Zeugnis früherer vulkanischer Tätigkeit im Herzen Haitis. Die Riesenbombe erinnert an die Vulkanbombe bei Strohn in der Eifel, die bekanntlich tausend Tonnen wog und auch einmal durch die Luft flog.

Aus dem Weg ist ein Lavastrom geworden. Zehn Meter breit führt er der tiefsten Stelle folgend mehr als eine Stunde lang aufwärts, immer mit leichtem Gefälle. Da es täglich viel regnet ist das nasse Schlammbett von tiefem Morast bedeckt. Der Morast bildet einen breiten Strom wie einst die Lava, und oft muss er im Zickzack überquert werden. Dies geschieht indem wir gezielt die aus dem Schlamm hervorragenden Lavablöcke überspringen; hie und da gleitet einer aus und zieht einen Schuhvoll heraus. Auch hier ist das einzigmögliche Verkehrsmittel das Pferd & Co. Die Lavastrasse ist denn auch voll von Pferdespuren, und hie und da begegnen wir sogar so einem Reiter.

Die Erde ist tiefschwarz und äußerst fruchtbar: mit ihren vulkanischen Mineralien, der ständigen tropischen Hitze und dem vielen Regen und erinnert mich das stark an die Erde unter afrikanischen Vulkanen. Dort gedeiht auch ein herrlicher Kaffee, zum Beispiel der „Kilimandscharo-Kaffee“. Das wäre bestimmt auch hier möglich, doch zurzeit sind es Erbsen, die hier in großer Zahl angepflanzt werden. Die Felder werden durch Grabensysteme kunstvoll entwässert.

Plötzlich taucht er vor uns auf, der Gesuchte, Er präsentiert sich in typischer Kegelform, rundum mit Lavaströmen, vulkanischen Bomben und anderen Zeugen der vergangenen Tätigkeit. Das „Wissenschaftliche“ dazu können Sie in einem anderen Artikel nachlesen. Wir jedoch haben, nach gut zwei anstrengenden Stunden, unser Ziel erreicht und wollen jetzt umkehren. Vorher aber schieße ich noch ein paar Föteli, dafür sind wir ja gekommen. Mit dem Wetter hatten wir Glück, der Regen hat uns verschont, es war angenehm kühl, und die Sonne gewährte uns durch die Wolken hindurch immer wieder ein paar Lichtblicke.

Es geht wieder den gleichen, mühsamen Weg zurück über den Morast- und Lavastrom und dann durch die Flüsse, von Alson wieder hinübergetragen. Ich bin mir das Wandern nicht mehr gewohnt und erschrecke, unten angekommen, ob starkem Muskelkater. Ein Gefühl, das ich seit Jahrzehnten nicht mehr kannte. Ich war nicht mehr imstande, das Fahrzeug zu führen und froh, dass Frowin ein gewiegter Lastwagenfahrer war. Ich war von Schlamm verspritzt von unten bis oben. Zurück im Le Mirage genoss ich ein ausgiebiges, heißes Bad und schrubbte die vielen hartgewordenen Vulkanspuren von meiner Haut. Danach genossen wir einen nach Vulkanerde duftenden, feinen Kaffee und dann einen tiefen, wohlverdienten Schlaf, diesmal ohne Rap und Reggae-Begleitung.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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