Es wird Winter in Haiti

Ulli_Dachzelt

Datum: 12. Dezember 2011
Uhrzeit: 08:57 Uhr
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Es wird langsam winterkalt in den Häusern, auch in Haïti – wir leben ja ein bisschen „in den Bergen“. So stieg ich aufs Dach, wo immer noch das Zelt steht. Wo Ulli, der Indiendeutsche, einst „gewohnt“ und sich mit dem Hausherrn überworfen hat, damals als er etwas ungeschickt die Solarpanels montieren wollte, ohne den Hausherrn zu fragen – und der wollte natürlich zeigen, dass er etwas verstand davon. Aber das ist bald zwei Jahre her.

Das Zelt dient oft zur Gaudi der Kinder, aber die sind jetzt in der Schule. Und so öffnete ich die Reissverschlüsse und stieg ein; das grösste Kunststück war, mich gebührend zusammenzuknittern um den Einstieg und das Folgende zu schaffen. Ich bin erschrocken, dass man offenbar gegen 80 so ungelenkig wird, aber schliesslich habe ich es geschafft. Ich krabbelte rein und legte mich auf die Decken, draussen strahlte wunderprächtig die Sonne, es war warm und erholsam und auch kreativ. Denn es ist unglaublich, was mir beim Liegen so alles durch den Kopf schoss. Die schönsten Geschichten, und da kam mir gleich ein Titel in den Sinn: „Die besten Geschichten sind die, die man vergessen hat“, in Abwandlung irgendeines Flügelwortes. Damit mir das mit der laufenden nicht auch so gehe, stieg ich nach dieser zu kreativen Zeltstunde flugs hinunter in mein Schlafzimmer und setzte mich an den Computer, da bin ich nun.

Natürlich geisterten mir viele Geschichten durch den Kopf da oben, aber dass ich die alle vergessen habe, hängt sicher auch mit dem Grund für mein Knittern und Krabbeln zusammen, ich habe ihn gerade in den letzten Sätzen erwähnt. Es gibt halt Dinge im Leben, die man akzeptieren muss. Die Hauptsache ist doch immer, dass das Leben weitergeht.

Ich dachte unter dem Zelthimmel zum Beispiel über das Wort „Nachhaltigkeit“ nach. Das ist in aller Munde und gerade in Zusammenhang mit unserer Schule da unten im Loch wieder modern. Bei den neuen, grossartigen Projekten, die so notwendige Arbeit bringen, allerdings eher für europäische Ingenieure als für arbeitslose aber arbeitswillige Arme, werden wohl Richtergrade als Sicherheitsmass postuliert- mindestens 8 oder sogar 10. Damit sich so etwas wie am 12. Januar 2010 nicht wiederholen kann. Ingenieure versuchen, die Natur auszutricksen, Nachhaltigkeit zu generieren.

Das wollten sehr wahrscheinlich frühere Ingenieure auch. Aber wo blieb die Nachhaltigkeit? Wo ist die, wenn die Natur stärker ist, wenn die Erde birst? Sicher ist, die Insel teilt sich. Die Prinzen- und heute Zweimillionenstadt wird eines Tages wieder auf dem Meeresgrund liegen. Die nachhaltigen Bauten der nächsten Baujahre auch. Das wird noch viele Erdbeben absetzen. und Schüttelfröste der Erde. Das war schon immer so, Jahrmillionen bevor es Menschen gab. Es gab nur noch keine Geschichtsbücher, und kein Fernsehen.

Was darf denn Nachhaltigkeit kosten? Wo sind die Grenzen, und wer legt die fest? Übrigens, das ist auch der Grund für die Erdbeben. Um die zu messen, hat man die Richtergrade erfunden, doch damit ist die „Nachhaltigkeit“ nicht erreicht. Wieviele Arme, Analphabeten, Arbeitslose fristen ihr Schauerleben, bis all die Nachhaltigkeit vollendet ist? Und sich dann doch als Täuschung erweist? Verkaufen die mich denn für blöd? Mit ihren Betonplatten, die sicher gut sind, aber nicht das einzige bleiben dürfen. Da gehören Werke, Seminare, die letzten Menschen drauf, bevor alle gestorben sind. Danke den deutschen Studenten, die da Frondienst geleistet haben. Aber denkt daran, dass es da noch allerhand mehr braucht. Und dass es DANN noch nicht „nachhaltig“ ist.

Und dass es auch Hilfe für die Gegenwart braucht, für die Menschen, die JETZT leben müssen. Zum Beispiel die Knirpse von Lakou-Mango.

Wie mit dem Geld. Sparen, sagte man langezeit der Nachhaltigkeit. Ein Bankkonto, das gibt Zinsen. Und heute, da decken die nicht einmal die Inflation, man kennt sogar Negativzinsen. Der Geldwert implodiert, wie ein vom Blitz getroffener Fernseher.

Und dann, jahrzehntelang sagte man, nachhaltig sei nicht das Geld, nur das Gold. Und eben nimmt das auch ab an Wert. jeden Tag mehr. Und die Besitzenden verzweifeln. Die Armen werden zu Reichen. Denn sie haben nichts zu verlieren, und können mit „nichts“ überleben, sie sind sich gewöhnt.

Nachhaltig ist, was im Kopf bleibt (aber auch das nur relativ). Meine Erlebnisse, Abenteuer, aus denen ich schöpfe. Nach der grässlichen Apokalypse von Gresye blieb mir das Leben und ein Laptop, der hilft enorm beim Schreiben. Aber es ginge selbst ohne, wenn es unbedingt sein müsste. Aber es ginge nicht ohne Erlebnisse, ohne die Abenteuer, und die sind im Kopf. Ich bin dran, sie herauszulassen in meine Bücher, die ich jetzt schreibe.

Vielleicht lernen die Knirpse unten in unserer kleinen Dorfschule nicht das ganze ABC, nicht die Ziffern und Zeichen bis zu den grossen Projekten der Richtergrade und Ingenieure, vielleicht nicht Diplome und Zertifikate. Aber Zeichen die bleiben, die ihrem Leben etwas geben- DAS wäre nachhaltig!

Spenden sind willkommen. Jeder Franken kommt der Schule für arme Kinder zugut. Dafür bürgen Prof. Dr. Angela Knauer, Dirk Knauer, Melissa Charles und Otto Hegnauer. Danke!

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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