Stumme Zeugen im Sonnenlicht: der Tag nach der Wahl in Caracas

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Datum: 08. Oktober 2012
Uhrzeit: 23:56 Uhr
Leserecho: 1 Kommentar
Autor: Dietmar Lang
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)
► Plakate, Schlagzeilen und Souvenirs erinnern stumm an Wahlsonntag

Die Hundertschaften an Soldaten sind abgezogen, die Absperrgitter wurden längst weggeräumt. Nur wenige Stunden nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses scheint Caracas vom Alltag eingeholt, wären da nicht die unzähligen Plakate und Wandbeschriftungen, die im grellen Sonnenlicht des Vormittags als stumme Zeugen an die vergangenen Ereignisse erinnern.

Venezuela wird, sollte es dessen Gesundheit erlauben, für weitere sechs Jahre von Staatspräsident Hugo Chávez und seinem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ regiert. Rund 55 Prozent der Wählerinnen und Wähler haben entschieden, dass der Autokrat seine Politik fortsetzen soll. 45 Prozent der Menschen im Land hingegen stehen für einen Wechsel in Richtung mehr freie Marktwirtschaft und haben damit Chávez das schlechteste Ergebnis bislang bei einer Wahl beschert.

Doch von dem Disput, den Schlammschlachten und den endlosen Diskussionen im Wahlkampf rund um die richtige Ideologie des südamerikanischen Landes ist heute nichts zu spüren. Am Plaza Bolivar spielt eine Salsa-Band auf, Kinder füttern Tauben oder tanzen zur Musik, andere Besucher der Anlage lesen einfach nur ihre Morgenzeitung. Ein paar fliegende Händler haben sich eingefunden und versuchen nach dem Wahlerfolg ihre Anstecker und Tassen mit dem Konterfei von Simón Bolivar oder „El Comandante“ persönlich an den Mann und die Frau zu bringen.

Die Szene scheint perfekt, doch ein paar „Chavistas“ plärren über schlechte Lautsprecher weiterhin ihre Parolen unter das Volk. Es ist die „heisse Ecke“, dort wird das ganze Jahr über Chávez-Propaganda gefahren, alles unter den wachen Augen der „Guarda Patrimonial“. Diese passt auf, dass kein Papier auf den Boden fliegt und sich niemand auf den Granitsockel des riesigen Denkmals des Freiheitskämpfers setzt, welches im Zentrum des Platzes gut sichtbar thront.

Nur ein paar Straßen weiter ist von all dem nichts mehr zu spüren. Hier herrscht die gewohnte hektische Betriebssamkeit. Straßenhändler bieten ihre Waren an, Unmengen von Autos machen das Überqueren der Straße zum Geduldsspiel und die U-Bahn-Stationen scheinen Unmassen von Menschen zu verschlingen, nur um sie kurz darauf wieder auszuspucken.

Kaum jemand trägt noch seinen Favoriten auf der Brust oder dem Kopf zur Schau, doch über das Ergebnis wird vermutlich noch einige Tage diskutiert und nachgedacht werden. „Schau, da ist der Präsident. Für weitere sechs Jahre!“, erklärt eine Frau ihrem vielleicht fünf Jahre alten Sohn mit deutlich Stolz in der Stimme. Sie deutet auf einen Mann, der zahlreiche Poster mit dem Konterfei Chávez‘ mit sich herumträgt und in der Fußgängerzone zum Kauf anbietet.

Wahlplakate, Schlagzeilen der Tageszeitungen, Souvenirs: nichts ist wirklich ungewöhnlich in Caracas am Tag nach der Wahl. Das Land lebt seinen „demokratischen Sozialismus“ und geniesst dabei die kapitalistischen Errungenschaften. Da sind vor allem die Blackberry-Geräte zu nennen, die jeder Zweite zu besitzen scheint und in endloser Folge darauf herumtippt. Alles natürlich unter den wachsamen Augen des alten und neuen Präsidenten, der wohl noch einige Zeit stumm lächend von den Laternenmasten auf sein Volk herabblicken wird.

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  1. 1
    Annaconda

    Und die 59 Toten in Caracas,am Wahlwochenende…? Routine,Gewöhnung der Misere und Kontinuität?.

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