Die Sprache des Schweigens – Schweigen hat viele Gesichter

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Datum: 23. Oktober 2009
Uhrzeit: 14:39 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
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SchweigenIndem du dieses Piktogramm des Schweigens gedeutet hast, hast du vielleicht bereits Schweigen gebrochen, im weitesten Sinne. Im engeren Sinne ist Schweigen das Unterdrücken von Lauten, selbst von unbewussten. Sogar den Atem anhalten um sich nicht zu verraten bedeutet Schweigen. Im engsten Sinn ist Schweigen Nichtsprechen. Trotzdem ist Schweigen Sprache!

Schweigen kann Zustimmung oder Ablehnung bedeuten. Wenn auf die Frage „Hat jemand etwas dagegen?“ niemand antwortet, wird das als Zustimmung gewertet, nach dem Zitat von Papst Bonifatius VIII: „Qui tacet, consentire videtur“ ( Wer schweigt, scheint zuzustimmen ). Er drückte sich vorsichtig und lateinisch aus; denn es könnte das ja jemand verstehen oder zum Schweigen gezwungen sein.

Juristen können auch lateinisch, und verstehen den Papst besser. Auch unter ihnen bedeutet Schweigen Zustimmung. Von diesem Prinzip gibt es Ausnahmen, die auf der Verhältnismäßigkeit und eben dem Grundsatz aus dem Römischen Recht beruhen „Qui tacet, consentire videtur, Wer schweigt, wo er sprechen sollte, dem wird Zustimmung unterstellt.“

Schweigen auf eine Frage oder auf eine Aufforderung zur Zustimmung wie „Sind Sie damit einverstanden?“ wird eher als Ablehnung gewertet.

Weniger römisch aber noch komplizierter sind Allgemeine Geschäftsbedingungen von heute. Sie gelten als akzeptiert, wenn kein Widerspruch eingeht. Eine Leistung gilt als anerkannt und die Verpflichtung des Partners als erfüllt, wenn kein Einwand vorgebracht wird. Angeklagte und deren Angehörige haben vor Gericht ein Schweigerecht, um sich nicht selbst zu belasten. Das Schweigen kann hier Zustimmung oder Ablehnung bedeuten. Denn im Strafrecht gilt der Grundsatz, dass es das Recht des Angeklagten ist, zu schweigen, ohne dass ihm das zum Nachteil ausgelegt werden darf. Entsprechend dem Prinzip, dass die Staatsanwaltschaft die Schuld zu beweisen hat, und nicht der Angeklagte sie zu widerlegen. Auch Schweigen des Papstes oder von weltlichen Mächten kann als Zustimmung gelten.

„Das Schweigen“ hieß ein Film von Ingmar Bergman aus dem Jahre 1963. „Das Schweigen* führte zu einem der größten Skandale der 60er Jahre. Der Film zeigte Szenen wie Koitus und Onanie, das scheint anzukommen. Denn allein in Deutschland hatte der Film elf Millionen Zuschauer. Die ungekürzte Fassung von „Das Schweigen“ löste soziale Unruhen aus. Im Brennpunkt der Debatte stand die Zensur, die den Bergman-Film ohne Schnitt und Kommentar freigegeben hatte. Schweigen der Zensur bedeutete hier auch Zustimmung. Das des Papstes wohl nicht. Der wählte das kleinere Übel, da Sprechen nur noch mehr Reklame gebracht hätte. Schweigen muss also nicht unbedingt Zustimmung bedeuten.

Schweigen zu einem Missstand oder Verbrechen bedeutet nicht Zustimmung. Auch wenn der Staatspräsident am 2.Mai zur Enthauptung eines Haiti-Bürgers in der Dominikanischen Republik stillschwieg, bedeutete dies nicht Billigung der Schreckenstat, sondern er wollte den Fall der Dominikanischen Justiz überlassen und kein Öl ins Feuer der ohnehin äußerst explosiven Stimmung zwischen den beiden Völkern gießen. Eine Stimmung wie sie früher unweigerlich zu Kriegen führte, heute zu Lynchjustiz, Aufschaukeln des Pöbels und Schüren der Gräueltaten. Die Massen in Haiti kapierten dies nicht. Die nachfolgenden wochenlangen Strassenkrawalle richteten sich weniger gegen die Schreckenstat oder gegen den Nachbarstaat, als vielmehr gegen das Schweigen von René Préval, das die Manifestanten nach dem Mord aufs schärfste kritisierten. „Jedes Mal, wenn sie töten, dann töten sie vier oder fünf von uns, und wir tun nichts, deswegen töten sie uns weiter, skandierte die aufgebrachte Meute im Chor.“ Trotzdem schwieg er weiter, auch das muss man können.

Ähnlich reagierte ein politisch exponierter Leser auf den erwähnten Artikel mit dem Satz: „Was Hinweise zu dem Text angeht, halte ich mich zurück. Ich schweige. Unter Juristen bedeutet das Zustimmung.“ Um sich politisch ausdrücken zu können muss man Rechts- und Wortjongleur werden. Schweigen in der Politik ist eine Waffe im Kalten Krieg. So haben nach dem Irakkrieg die Führungskräfte der USA und der Bundesrepublik Deutschland lange nicht miteinander geredet. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, heißt in Europa ein Sprichwort, und meint wohl dasselbe.

Schweigen ist eine kommunikative Handlung, bei der nicht gesprochen wird und bei der keine Laute erzeugt werden. Das genügt bei weitem nicht, auch die Art des Blickes, ein Augenzwinkern und vieles mehr brechen ein Schweigen. In der Bäckerei auf ein Brötchen zeigen ist keine verbale Äußerung, jedoch eine Willenserklärung. Haitianer zeigen auf ihren Bauch, oft ohne zu sprechen: Gen grangou, Ich habe Hunger, lautet die stumme Botschaft. Unmissverständlich

Schweigen kann Verweigerung einer Antwort bedeuten, zum Beispiel „eisiges“ Schweigen. Nicht-miteinander-Reden ist Sich-Anschweigen in Ehekonflikten und kann lange dauern. Schweigen bringt Zeit, sich eine Antwort zu überlegen. Es deutet das Ende der Wortfolge an. Während man einem anderen zuhört, schweigt man ebenfalls, unter Mindestgebildeten jedenfalls. Schweigen eines Mediums oder einer Raumstation hat technische Gründe. Dazu gehört mein derzeit größtes Problem: das Internet schweigt tagelang. Metaphorisch können auch Waffen schweigen.

Mitarbeiter schweigen in Großraumbüros, um die zum Arbeiten erforderliche Ruhe zu gewährleisten. Es gibt berufliche Schweigepflicht, etwa für Soldaten und Polizisten, Ärzte, Anwälte, Bankbeamte, Beichtväter, Angestellte und Beamte. Redner setzen Denkpausen als rhetorische Aufforderung zum Nachdenken und um ihre Rede wirkungsvoller zu gestalten. Wohlerzogene Zuschauer schweigen in Theatern und Kinos, um andere nicht zu stören.

Gemeinsames Schweigen zum Gedenken an bestimmte Ereignisse wird als Schweigeminute bezeichnet. Plötzliches Schweigen kann eine gespannte Stimmung signalisieren. Wenn in einer Gruppe alle schweigen, weil niemand zu reden beginnen möchte, entsteht „betretenes Schweigen“, eine peinliche Situation. Oft entsteht Schweigen, wenn gefragt wird: „Hat jemand eine Frage?“ Viele wollen nicht als erste reden, um nicht aufzufallen. Wenn erst einmal eine Diskussion in Gang gekommen ist, entwickelt sie eine Eigendynamik. Man schweigt auch, um Schlafende nicht zu wecken. Zum Beispiel Löwen.

In der katholischen Kirche ist es üblich, einen Priester zu einem zeitlich befristeten Schweigen zu verdammen. Missbrauchte Kinder werden eingeschüchtert und zum Schweigen gezwungen. Es wird ihnen erzählt, dass das ein Geheimnis und ganz normal sei, und Hilflosigkeit bringt die Opfer zum Schweigen. In früheren Zeiten war es Brauch, Geheimnisträgern die Zunge rauszuschneiden, um das Reden zu verhindern. Todesstrafe und Mord wurden angewendet, um Gegner „zum Schweigen zu bringen“. In totalitären Systemen, aber auch in Demokratien werden Bürger zum Schweigen gebracht. Ein Beispiel ist die Fraktionsdisziplin. Manche Künstler und Schriftsteller legen sich Künstlernamen zu. Geheim- und Nachrichtendienste legen eine Legende an, d.h. erfundene Biographien, um Absichten und Identitäten zu verbergen.

Im gläsernen Heute ist Verbergen utopisch. Das Internet bringt dich automatisch auf schwarze Listen, und die gehen unangeschaut nach Amerika – und man kann aus dir einen Terroristen machen, du kannst nur hoffen, dass du nie auf einen bösen Link klickst. Und so wie ich zum Beginnen das Schweigen brechen musste, zum Beenden muss ich verstummen. Bevor ich zu einem „Terroristen“ geworden bin.

siehe auch

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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