Politik in Brasilien ist ein permanenter Verhandlungsprozess – weder Parteien noch Politiker stehen sich in festen ideologischen Lagern gegenüber. Die Parteienlandschaft ist recht zersplittert und unübersichtlich, nicht nur aufgrund einer mangelnden Sperrklausel und anderer Rechtsprobleme im Verhältniswahlsystem, sondern auch wegen der rechtlich problematischen Struktur des Parteiensystems selbst. Mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelte Wahlvereine bilden eine Bühne, auf der Dissidenten, Parteienübertritte, programmatische Profillosigkeit und wahlbezogene und damit temporäre Parteineugründungen das Bild prägen. Das laufende Jahr 2016 wird nicht nur durch ein Verfahren zur Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff geprägt, das Repräsentantenhaus verzeichnet den größten Parteiwechsel von Abgeordneten seit mehr als einem Jahrzehnt.
Nach offiziellen Daten haben in diesem Jahr bisher 99 Abgeordnete ihre Parteien gewechselt, fast ein Fünftel der 513 Mitglieder des Hauses. Diese Zahl übersteigt bereits jetzt den eigentlichen Missbrauch des Wählerwillens aus dem Jahr der Mensalão-Skandal 2005, als 95 Abgeordnete ihrer Partei den Rücken kehrten. Die meisten dieser Migrationen fanden zwischen Februar und März dieses Jahres statt, als das Impeachment gegen das Staatsoberhaupt eröffnet wurde. Im Falle eines „ungerechtfertigten Wechsels“ sieht das Oberste Wahlgericht (TSE) die Möglichkeit der Bestrafung vor, das Prozedere war Ende 2007 genau festgelegt worden.
„Dass zwanzig Prozent der Mitglieder des Hauses ihre Parteizugehörigkeit ändern, ist überwältigend für eine traditionelle Demokratie. Wenn man die Parlamente anderer Länder zum Vergleich heranzieht, gab es dort noch nie eine Änderung dieser Größenordnung“, stellt der Politologe Jairo Nicolau, Professor an der Universität „Universidade Federal do Rio de Janeiro“, fest. Die politische Krise spielt eine wichtige Rolle bei der Parteiloyalität, die Abgeordneten bereiten sich bereits auf die „Zeit nach Dilma“ vor.
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