Brasilien: Gefängnisrevolte auf unmenschliche Haftbedingungen zurückgeführt

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Gefangener im staatlichen Gefängnis am Stadtrand von Manaus, Brasilien. (Foto: Adveniat/Pohl)
Datum: 10. Januar 2017
Uhrzeit: 13:16 Uhr
Leserecho: 1 Kommentar
Autor: Redaktion
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56 Tote in Manaus, 33 Tote in Boa Vista – so lautet die blutige Bilanz der jüngsten Gefängnisrevolten in Brasilien. Laut Medienberichten geht die Gewalt auf rivalisierende Drogenbanden zurück. Schwester Petra Pfaller sieht hingegen die unmenschlichen Haftbedingungen und damit das Versagen des brasilianischen Staates als Ursache. Die Missionarin Christi ist stellvertretende Vorsitzende der katholischen Nationalen Gefängnispastoral in Brasilien und arbeitet seit 22 Jahren in der Gefängnisseelsorge eng mit dem Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat zusammen.

Wie ist die Situation in brasilianischen Gefängnissen?

Petra Pfaller: Die Situation ist in allen Gefängnissen Brasiliens angespannt und das nicht erst seit den Massakern in Manaus und Boa Vista. Wir haben in den letzten Tagen auch Informationen von Gefängnisrevolten in Rio Grande do Sul, Paraíba und Rio de Janeiro. Die Gefängnisseelsorge klagt seit Jahren die unmenschlichen Verhältnisse in den Gefängnissen an. – Jedes einzelne ist ein Pulverfass, das jederzeit explodieren kann. 25 Jahre nach dem Massaker von Carandiru in São Paulo, bei dem 111 Gefangene getötet wurden, hat sich im brasilianischen Straffvollzug nichts verändert – im Gegenteil: es wurde schlimmer.

Was sind die Ursachen für die jüngsten Gefängnisrevolten – die Medien sprechen von Auseinandersetzungen rivalisierender Drogenbanden?

Petra Pfaller: Es ist ein fadenscheiniges Argument, die derzeitige Gewalt in den Gefängnissen auf die rivalisierenden Drogenbanden zu schieben. Damit zieht sich der Staat aus der Verantwortung. Denn die organisierten Drogenbanden sind nur ein Produkt der unmenschlichen Haftbedingungen und der repressiven Politik der Regierung. Masseninhaftierungen, das selektive Strafsystem, unterdrückende Drogenpolitik, verzögerte und langwierige Gerichtsverfahren – 40 bis 70 Prozent der Gefangenen befinden sich über Monate und Jahre in Untersuchungshaft – und Folter sind die wahren Ursachen der Gefängnisrevolten.

Was müsste getan werden, damit es nicht wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt?

Petra Pfaller: Der Staat hat jüngst ein Sicherheitsprogramm vorgestellt, von dem wir nicht erwarten, dass sich die Situation im Strafvollzug ändern wird – im Gegenteil. Jahreslanges Wegschauen und ausschließlich repressive Politik kann man nicht in kürzester Zeit mit einen Notprogramm rückgängig machen. Noch dazu mit Vorschlägen, die unserer Meinung nach die aktuelle unterdrückende und selektive Strafpolitik verstärkt.

Auf der Agenda der Gefängnisseelsorge stehen vor allem die folgende Richtlinien, um die Situation in den Gefängnissen zu ändern, die Haftentlassungen und den Straferlass möglich zu machen und die gemeinschaftlichen Praktiken der friedlichen Konfliktlösung zu stärken: Die Aussetzung jeglicher Investitionen in den Bau von neuen Gefängnisgebäuden; eine größtmögliche Einschränkung der vorläufigen Festnahmen; die Verkürzung der Strafzeiten und eine Entkriminalisierung im Bereich der Drogenpolitik; die Erweiterung der Garantien im Strafvollzug und Öffnung der Gefängnisse für die Gesellschaft; ein absolutes Verbot der Privatisierung des Gefängnissystems; die Bekämpfung der Folter sowie die Entmilitarisierung der Polizeieinheiten und der öffentlichen Verwaltung.

Angesichts der Dringlichkeit der Debatte über die öffentliche Sicherheit – vor allem aufgrund der Eskalation der Polizeirepression – ist es höchste Zeit, die Gewalttätigkeit gegen die Armen in Brasilien umzukehren, und eine Gesellschaft ohne Unterdrückungsmechanismen und ohne Gefängnisse aufzubauen.

Wie unterstützt das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat die Gefängnisseelsorge in Brasilien?

Petra Pfaller: Adveniat ist ein sehr wichtiger Partner der Gefängnisseelsorge. Seit Jahren unterstützt das katholische Hilfswerk unsere Arbeit in ganz Brasilien. Die Gefängnisseelsorge steht am Rande der Gesellschaft und hat oft auch innerhalb der Kirche keinen Platz, da sie sich nur um „die Verbrecher” kümmert. Das höre ich leider oft genug. Adveniat durchbricht diesen Kreislauf von Gewalt und Rache und stellt sich auf die Seite derer, die in der Hölle Brasiliens auf unmenschliche Art eingesperrt sind. Besonders in den letzten Jahren hat auch Adveniat ein Augenmerk auf die inhaftierten Frauen, die noch stärker als die Männer unter dem gewalttätigen Strafvollzugssystem Brasiliens leiden. Jeder Mensch hat das Recht auf ein würdevolles Leben – auch die, die am Rand der Gesellschaft stehen.

Pressemitteilung

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  1. 1
    Carlitos

    Ach, liebe Schwester, nimm sie doch alle nach hause!

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