Evangelikale Kirchen und Ayahuasca-Retreats: Die neuen (Irr-)Wege der südamerikanischen Spiritualität

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In Brasilien leben viele Menschen ihre Spiritualität offen aus (Foto: Toninho Tavares/Agência Brasília)
Datum: 22. Februar 2018
Uhrzeit: 18:18 Uhr
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Autor: Redaktion
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Spiritualität existiert seit Menschengedenken. Als religiöse Spiritualität hat sie die großen Weltreligionen herausgebildet, die noch heute weltweit das Bild von ihr bestimmen. Auch wenn der Begriff auf das lateinische Wort spiritus, also Geistlichkeit, zurückgeführt wird, gibt es durchaus spirituellen Glauben, der sich nicht mit religiösen Begriffsbezeichnungen fassen lässt. Denn Spiritualität kann ganz allgemein „die Suche nach dem Heiligen“ bezeichnen und daher auch individuelle Glaubenserfahrungen definieren.

Der allgegenwärtige Prozess der Säkularisierung, in der westlichen Welt nach der Aufklärung die größte geistige Umwälzung der Neuzeit, hat den Einfluss der Weltreligionen auf globaler Ebene vermindert. Das Thema Spiritualität ist heute jedoch aktueller denn je, denn die Sinnsuche der Menschen geht außerhalb der Kirchen- und Tempelwände unvermindert weiter. Dabei spielt das Seelenheil des Einzelnen zwar immer noch eine Rolle, der Fokus richtet sich aber immer stärker auf das jetzige Leben und eine hedonistisch-epikureisch anmutende Carpe-diem-Mentalität. Ein Weiterleben der Seele nach dem Tod, wie es viele spirituelle Bewegungen für möglich halten, wird kaum noch thematisiert. Dagegen werden persönliche Werte wie Glück und Liebe zu neuartigen Reliquien erhoben.

Im europäischen Raum lässt sich auch bei spirituellen Gruppierungen ein stärkerer Bezug zur Ich-Wahrnehmung feststellen. Viele vom Christentum enttäuschte Menschen suchen nach einem neuen Bezugspunkt in ihrem Leben, der ihnen Sinn stiftet und sie zu sich selbst finden lässt. Das kann genauso eine Zuwendung zur alternativen Heilkunde bedeuten wie zu Wahrsagepraktiken, etwa dem modernen Kartendeck des Crowley Tarot.

In Lateinamerika ist die Spiritualität der Menschen hingegen eine andere. In den Städten Brasiliens erstaunt zunächst die Vielfalt der verschiedenen Kirchen und ihrer Anhänger. Es sind hauptsächlich die evangelikalen und pfingstkirchlichen Glaubensgemeinschaften, die den Katholizismus als wichtigste spirituelle Gemeinde abgelöst haben und deren Priester allgegenwärtig sind – sei es im Fernsehen oder im Parlament. Gegen ihr charismatisches Engagement, sich den sozialen Problemen der ärmeren Bevölkerungsteile zuzuwenden und den Fokus auf emotionale Gottes-Erfahrungen zu lenken, wirkt die katholische Kirche starr und veraltet. Evangelikale Konzerte, bei denen junge Menschen mit pink-glitzernden Jesus-Stirnbändern herumlaufen, sind in Brasilien genauso normal wie Messen, in denen für Reichtum und beruflichen Erfolg gebetet wird. Nicht nur das wird auf viele Europäer befremdlich wirken. Auch die im Namen der Spiritualität stattfindende Kommerzialisierung, etwa durch den Verkauf von Gebetsbändchen, mag manch einen zu stark an den mittelalterlichen Ablasshandel erinnern.

Wer die lateinamerikanische Spiritualität allerdings auf diese Entwicklung beschränken will, hat weit gefehlt. Die jahrtausendealten Naturreligionen der indigenen Völker existieren immer noch, fern der städtischen Zivilisation und gemäß überlieferter Traditionen. Spiritualität ist für sie fast immer eine kollektive Erfahrung. Im Amazonasgebiet initiieren die Schamanen alte Rituale, bei der die bemalten Tänzer sich zum Trommelrhythmus um ein Feuer bewegen. Oft werden auch Halluzinogene wie der pflanzliche Ayahuasca-Tee eingesetzt, um spirituelle Visionen zu empfangen und die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. In den letzten Jahren ist dieses Ritual bei Südamerika-Backpackern beliebt geworden, denn sie werden vermehrt auch in urbanen Meditationszentren angeboten und versprechen eine alternative und psychotherapeutische Bewusstseinserfahrung. Allerdings fehlt in solch städtischem Rahmen einerseits die individuelle Begleitung durch einen Schamanen, da die Rituale als Gruppentherapie angeboten werden. Andererseits bleibt der Bezug zur natürlichen Umgebung aus, der Pacha Mama, die mit absoluter Ruhe und Einsamkeit positiv auf das Ayahuasca-Erlebnis einwirkt. Das führt dazu, dass das Halluzinogen als Droge statt als Heilmedizin wahrgenommen und genutzt wird. Aber die Anbieter lassen es sich teuer bezahlen – und die Kunden bleiben nicht aus.

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