Ein rebellisches Volk in Haiti

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Datum: 09. Juni 2010
Uhrzeit: 12:03 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

In den Jahrzehnten nach der Entdeckung der Insel Hispaniola durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492 wurde die indianische Urbevölkerung, die Arawaken oder Taínos, angeblich fast vollständig ausgerottet. Ich glaube das allerdings nicht, denn in den gleichen Angaben steht, die Indianer seien getötet und ihre Frauen vergewaltigt worden. Und von Vergewaltigten blieben doch mindestens Mischlinge übrig.

Haitis Geschichte ist eine Geschichte der Rebellion. Seit dem 15./16.Jh. fanden Indianeraufstände gegen die Spanier statt, z.B. die Schlacht von Vega Real. Die Indianerkönigin Anacaona war selber eine heldenhafte und erfolgreiche Rebellenführerin. Sie wurde gefangen und erhängt. Erst ihrem Nachfolger, Häuptling Henri / Enriquillo, gelang die endgültige Befreiung vom spanischen Joch.

Ab dem 17. Jahrhundert schließlich wurden zu tausenden afrikanische Sklaven eingeführt. 1791 fand ein Sklavenaufstand unter Toussaint L’Ouverture statt, der sich zu einem blutigen Krieg entwickelte. L’Ouverture wurde gefangen und nach Frankreich deportiert. Im Fort-de-Joux fand er einen grässlichen Tod. In Haiti, das sich die Karibikinsel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt,  intervenierten sogar die Engländer, Spanier und andere Nationen – alle vergeblich, sie hatten nicht mit den Haitianern gerechnet. Selbst eine von Napoleon gesandte Armee wurde geschlagen. Die Haitianer setzten sich überall durch. Das erinnert an die berühmten Schweizer Schlachten, als im 13./14.Jh. die kleine Bauern- und Rebellen-Armee der Eidgenossen die österreichischen Riesenheere besiegte.

Haiti, die erste unabhängige Republik von Schwarzen, engagierte sich weltweit für die Abschaffung der Sklaverei und unterstützte auch Venezuela, Peru und Kolumbien bei ihrem Unabhängigkeitskampf unter Revolutionsführern wie Bolívar und Miranda. 1902 kam es sogar zu einem Seegefecht zwischen der haitianischen und der deutschen Kriegsflotte (Markomannia-Zwischenfall).

Auf der Straße kommt es seit jeher bis heute fast täglich zu Tumulten, Protesten, Schlägereien, Manifestationen der Rebellen gegen alles und jedes, und sehr oft gibt es Tote. Ich will da nicht weiter mitreden, denn einerseits ist vieles berechtigt, zum Beispiel Forderung eines Schul- oder Sozialsystems, anderseits gehen Strassenunruhen sehr häufig auf Kosten einer lautstarken Minderheit, einer Jugend die einfach Radau und Erlebnis sucht und keine politischen Anliegen vertritt.

Die Haitianer blieben in der Folge zwar unentwickelte, aber selbstbewusste Rebellen. Sie tun sich schwer mit internationalen Übereinkünften und messen ihre Welt gern mit der eigenen Latte. So sind sie stolz auf ihr eigenes Geld, und dass die Welt meist mit einem Dezimalsystem rechnet und misst, beeinflusst sie mitnichten, sie haben statt des 10er- ein Fünfersystem aufrechterhalten, ihr „Dollar“ enthält eben fünf Gourdes. Wie eine Hand fünf Finger, das braucht dann keinen Abakus, Zählrahmen oder Taschenrechner mehr. Mit den alten Römern sind sie da in guter Gesellschaft.

Und dass dieser Dollar mit dem üblichen US$ nur den Namen gemeinsam hat und rund achtmal weniger wert ist, hinderte sie nicht, auf die früheren Banknoten den Text aufzudrucken, 1 Haiti-Dollar sei gegen 1 US-Dollar zu tauschen. Flexible Wechselkurse anerkannten sie nicht. Schließlich beugte man sich dem internationalen Druck und schaffte Dollarnoten und Dollar ab, und heute ist nur noch der Gourdes „offiziell“.

Das kümmert die selbstsicheren Haitianer natürlich keineswegs, und von Gourdes spricht man nur bei Mini-Händeln und im Ausländerbereich. Beim Volk wird nach wie vor in „Dollar“ gehandelt, egal was die Amerikaner und Ausländer schlechthin sagen, die verstehen das andere ja ohnehin nicht. Der Haiti-Dollar ist heute ein virtuelles Zahlungssystem, das gar nicht existiert aber eben doch existiert. Und wenn die Fremden mangels Wissen in US-Dollar, also achtmal zu viel bezahlen, ist es für die armen Haiti-Menschen ja umso besser.

Fast ähnlich verhält es sich mit der Zeit. Uhren sind ohnehin eine Erfindung des Teufels, und als ich hier vor bald 20 Jahren antrat, gab es noch keine. Es gab ja auch keine fahrplanmäßigen Verkehrsmittel, außer dem Flugzeug, und da war man eben schon am Vortag auf dem Flughafen, sicherheitshalber. Bis zum Zielflughafen spielt es auch keine Rolle, ob Sommer- oder Winterzeit herrscht, da sind sich ja selbst die Airlines uneins und drucken falsche Zeiten auf die Tickets, oder scheinen nicht zu wissen, dass es in Haiti eben keine Sommerzeit gibt. Oder wie man das denn umrechnet. Die Computer wissen das ohnehin nicht, und so zeigen sie in Haiti eben eine falsche Zeit. So modernes Zeug lehnen die Haitianer ab, besonders wenn es noch aus den USA kommt. Und heute, 500 Jahre später, tötete sie das Beben und schüttelte die Überlebenden wieder zurück in Hängematten und Zelte.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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