Auch Haiti liegt im Fussball-Fieber der WM 2010

Datum: 17. Juni 2010
Uhrzeit: 15:15 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
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Michael aus Brasilien, Redakteur der agência latina press und Herausgeber meiner Kolumne, hat mich gefragt, ob sich denn das Fußballfieber hier auch auswirke. Und WIE, kann ich antworten! Dass das ein Weltereignis ist, haben auch die Haitianer entdeckt, zur Zeit der Globalisierung, und das nächste Mal ist ja auch Brasilien dran, dann wird das Micha näher erleben dürfen / können / müssen und selber berichten. Und falls es je zu einem dritten Mal kommt, wenn überhaupt, wird das ganz bestimmt Haiti selber sein, denn der Ort eines so wichtigen FIFA- und Werbeträgers wird vor allem politisch entschieden. So war der diesjährige Südafrika-Entscheid politisch gemeint, als Aufmunterung der Schwarzen, Gemäßigten und Rasselosen nach überstandener, jahrzehntelanger Apartheid, ein Lobgesang für Mandela und all die anderen, siegreichen Helden.

Und ohne der FIFA vorgreifen zu wollen, prophete ich ganz grosskotzig in die Welt hinaus: das übernächste mal kann es nur in Haiti selber sein. Damit wird sich die Welt an das schreckliche Erdbeben mit bis heute 320’000 identifizierten Toten, bis dann werden es vielleicht noch viel mehr sein, erinnern, und es wird eben die Zeit sein, den Neuaufbau dieses Landes mit Millionen eingestürzter Häuser wieder zu feiern und fröhlich zu sein. dann werden die Choräle der Fußballbegeisterten wieder über die Täler klingen wir es gerade jetzt der Fall ist. Die Hymne der Fußball-Weltgemeinde wird die Welt unisono durchdringen so wie heute, ohne Rücksicht auf Zeitunterschiede und egal ob Sommerzeit oder nicht.

So ist es auch jetzt. Die EDH, wie die von Venezuela geleitete Elektrizitätsgesellschaft heißt, gibt sich alle Mühe, genügend Strom für die Millionen von Fernsehgeräten bereitzustellen, aber wie das in Wirklichkeit aussieht, muss ich ja nicht erzählen. Es ähnelt einem Schachbrett. Es gibt eben stromerschlossene Gebiete, quasi die schwarzen Schachbrettflecken, und stromunerschlossene, welche den weißen Flecken auf der Karte entsprechen. Obschon es nachts dunkel, also in beiden Regionen schwarz bleibt, hocken und liegen die Menschen auch dort zu tausenden auf den Hügeln und warten auf ein Schallsignal. Oder sie haben sogar das Privileg, in Kilometerferne ein Fernsehgerät in einer Schwarzen Region flimmern zu spüren und so vermeintlich bis nach Südafrika hinüberzusehen.

Das ist allerdings gar nicht nötig, denn die Schallereignisse verbreiten sich auch ohne Strom weltweit und im Augenblick, ihre Sprache ist weltverständlich und wirkt weltweit. Zum Beispiel nach einem Goal, das zwar zu einer ganz bestimmten Zeit in Südafrika gespielt wird, aber in der ganzen Welt genau in demselben Augenblick an Milliarden von Fernsehern, Radios und anderen Verbreitungsmedien kommentiert und von jeder Art typischer Schallreaktion, ungeheurem Freudengebrüll, Gehorn und Gehupe und einer Fülle von Reaktionen überholt wird, nicht nur Schall betreffend, die die Menschen erzittern und glauben lassen, ein neues, diesmal positives Erdbeben sei eben im Gange. Die Sprache der Ereignisse ist jedem so bekannt, dass man darauf wartet und augenblicklich reagiert, Landes- und wohl weltweit, auch wenn man das Geschehene gar nicht sieht. Mangels Strom, Fernseher oder sonst was.

Natürlich gehört man zu den Privilegierten, wenn man in den Massen vor den Bildschirmen hockt und sieht was geschieht, drüben in Südafrika, und noch mehr mit fiebern kann. Aber man ist auch ohne Bild dabei, Tag oder Nacht spielt auch keine Rolle. Man bekommt die Weltkulisse mit, kann ihr nicht ausweichen, weiß wohl oder übel was geschieht. Und nach den Spielen geht’s nochmals los, mit Ton- und Bildspektakeln an und auf den Straßen, überall. Hier in Haiti ist man natürlich Brasilienfan, da dürfte man schon gar nichts anderes wagen. Kinder jeden Alters schwenken ihre Papierfähnchen mit dem Brasilienwappen über den Köpfen, Schuhe, Kleidungsstücke und Mützen sind alle grün und gelb und auch über Spruchbänder, Banner und Dekorationen jeder Art sind die brasilianischen Landesfarben verbreitet. Sogar Bemalungen von Autos und Mauern wurden zeitgemäß realisiert, man könnte meinen, die Welt sei verrückt. Ist sie ja auch, wenigstens Fußball verrückt.

Sie erinnern sich, dass wir am 12.Januar, in den richtigen Sekunden noch rechtzeitig aus der Bergburg und ihren Nachbarhäusern geflohen waren. Die folgenden zehn Schreckenstage erlebten wir unter schaurigem Schütteln und Schüssen auf einem Platz im Freien, bevor wie auf Umwegen ins Ausland evakuiert wurden. Die rund 15 Nachbarleute haben sich nie mehr in ihre Häuser zurückgetraut, sie schlafen heute noch auf demselben Platz, in einem Zelt. Da haben sie auch einen kleinen Fernseher aufgestellt, und drängen sich zu fünfzehnt auf dem kleinen eisernen Bett, das man damals für mich aufgestellt hatte. Heute Nacht stürzte das Bett unter dieser Last zusammen, und das Fussballbild blieb einige Zeit dunkel. Trotzdem hörte man weiterhin, was in Südafrika gerade lief, und die Reaktionen gingen weiter.

Übrigens gestatte ich mir, der Musikusfamilie Meyer im fernen Wallis für eine Spende recht herzlich zu danken, die vor einiger Zeit gut angekommen und sinnvoll angelegt wird. Mangels Strom und Verbindung konnte ich meinen Dank gar nicht übermitteln, auch telefonisch ging das nicht da das Sprechding ebenfalls übers Internet funktioniert – wenn überhaupt – und für eine Karte reichte es auch nicht, da es zurzeit gar keine Post gibt. Als ich vor ein paar Tagen deswegen zur Hauptpost fahren wollte, fragte man mich, ob ich denn lebensmüde sei… Eine e-Mail-Adresse oder ein Internet haben die Meyers noch nicht, aber seit gestern darf ich ja gelegentlich ins Pressezentrum und kann so meine Artikel wieder übermitteln. Bei Gelegenheit wird ihnen das ein Leser bestimmt weiterleiten, danke!

Im Übrigen gebe ich meiner Hoffnung Ausdruck, dass bei der übernächsten Runde, eben derjenigen in Haiti, welches sich die Insel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, das Problem der Blackouts, der plötzlichen Stromausfälle, behoben sein wird. Denn sonst könnte es geschehen, dass die Spieler vor dem entscheidenden Stoß den Fußball gar nicht sehen und die Luft statt den Ball lostreten.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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