„Haiti Cherie“: Ein Traum scheint endgültig ausgeträumt

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Datum: 04. Juli 2010
Uhrzeit: 20:47 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Der Traum « Haiti Cherie » scheint endgültig ausgeträumt, ausgeträumt und verflogen. Bis zum heutigen Tag hat es in Haiti nicht aufgehört, zu schütteln und zu zittern, es will nie aufhören. Doch Haiti überlebt trotzdem, in den Trümmern-und erst recht, lebt weiter, wird auch während der Hurrikan-Saison und der Sintfluten weiterleben, die jetzt beginnen. Helfen wir ihm dabei, die Lage der Flüchtlinge in den Millionen von Zelten wird bedenklicher, jeden Tag.

Schon fünf Monate sind es seit der Katastrophe ( zur Zeit der Übersetzung sind es sechs ). Die Lage ist unglaublich, verzweifelt, hoffnungslos. Aber nur scheinbar hoffnungslos, auch wir, mit unseren Partnern, wir helfen erst recht. Wir glauben daran, dass eine andere Welt möglich ist, die Welt wieder besser wird.

Allgemeines

Mehr als zwei Millionen Menschen haben am 12.Januar ihr Obdach verloren. Sie überleben gegenwärtig mit kaum etwas geretteter Habe in den unzähligen Lagern nahe ihren einstigen Häusern oder in der Umgebung der Stadt, die einst Prinzenstadt war, unter freiem Himmel, unter improvisierten Tuch- und Plastikdächern, oder die „Glücklichen“ auch in schon gut strukturierten Zeltlagern, bei Familien und Freunden in der Landschaft oder irgendwo. Denn die Gastfreundschaft der Haitianer kennt keine Grenzen.

Wir schätzen, dass 1,7 Millionen Menschen so in der Schreckensstadt und deren unmittelbarer Umgebung dahinvegetieren, und weitere 400’000 in den Vororten und auf dem Lande. Wir glauben auch, dass 50 bis 80 % der Einwohner ihre Papiere verloren haben, Identitätskarte, Geburtsurkunde, Berufs- und Schuldiplome und alles, was man sich gar nicht vorstellen kann. Die Toten können nicht geborgen und gezählt werden, sie liegen zum Teil noch unter den Trümmern, es fehlt einfach ein großer Teil der Bevölkerung.

Die psychosoziale Situation ist unbeschreiblich und kritisch. Es gibt kaum ein anderes Thema, und die Erde fährt fort zu schütteln. Bei jedem Erdstoß überlagern sich chaotisch Wellen von Panik von allen Seiten und machen vor keinem Halt. Angst und Schrecken lähmen oft die Jungen und „Starken“, die fähig sein könnten, Kinder und Kranke zu begleiten, wohin wissen sie nicht.

Die „Regierung“ zappelt ihre Arbeit und bricht darunter noch vollends zusammen. Trümmer- und Schlammräumung, Wiederaufbau, Kampf für die öffentlichen Interessen, Verstaatlichung des Bodens auf dem Terrain der Hauptstadt, Schaffung von Notrechten und einer Dringlichkeitsadministration, und was noch dazugehört. Fast logisch, dass dies ein idealer Nährboden für Opposition und Unzufriedene, Schreier und Protestler hergibt, und immer mehr Wandzeitungen und Spraysprüche verlangen die Abdankung des Präsidenten.

Die politischen Strukturen zerfallen noch mehr, die Destabilisierung grassiert, und damit stürzt auch die mühsam errungene Sicherheitslage wieder ins Chaos zurück. Nicht nur in der Hauptstadt, auch in der Provinz wo sich immer noch viele entwichene Banditen versteckt halten. Vielerorts greift das erzürnte Volk zur Selbsthilfe, und nicht nur Entführer, auch vermeintliche Diebe fallen in die grausamen Hände der Lynchjustiz.

Vorteil der Lagerbildung um die Stadt und in der Provinz ist die beabsichtigte Dezentralisierung, die erst das Arbeiten in der Stadt erlaubt. Anderseits muss festgestellt werden, dass infolge der unmöglichen Sicherheits- und Versorgungslage auf dem Land die Hilfsorganisationen von Regierungen und Nichtregierungen sich zu wenig geschützt fühlen, immer mehr auf das Zentrum konzentrieren und das Umland noch hilfloser machen. Bereits sind Hunderttausende von Flüchtlingen, die in der Provinz Zuflucht gefunden haben, auf die Solidarität ihrer Familien und Freunde angewiesen. Die ausländischen Truppen haben sich wohl zum großen Teil zu früh zurückgezogen und müssen wohl wieder eingesetzt werden.

Der so bedingte Exodus der großen Hilfsorganisationen aus der Provinz verstärkt natürlich die Rückwanderung der Bevölkerung und damit die Probleme noch mehr, und die hoffnungsvoll begonnene Dezentralisierung geht zunichte. Die Provinzler versuchen ihr Glück wieder in der Stadt… Unglücklicherweise hat die Regenzeit dieses Jahr schon im April statt im Mai begonnen, und viele Flüchtlinge leben am Abgrund. Die Lager werden manchmal zu Schlammfeldern, und in den Zelten schläft man „unter“ Wasser. In vielen Lagern verzichten Eltern auf ihre Nachtruhe, um für die Kinder die ganze Nacht über Wasser schöpfen zu können.

Am 5. April wurden viele Schulen wieder eröffnet, meist in Zelten oder zeltähnlichen Konstruktionen. Das ermöglichte das Aufflammen eines Hoffnungsschimmers trotz der prekären Situation. Viele Kinder sind hin- und hergerissen zwischen schlaflosen Nächten und unerträglicher Hitze, die oft in den Schulzelten brütet. Und beim kleinsten Erdstoß rennen die Eltern zur Schule, um ihre Kinder zu „retten“. Ein geordneter Schulbetrieb ist kaum möglich.

Das Morgengrauen dämmert damit mehr grau als rot hinter den Seen des Cul-du-Sac hervor, wo sich auch dunkelgrau-bis schwarze Wolken türmen, die verbergen ja wohl auch nicht nur den blauen Tropenhimmel und die berühmten schneeweißen Sandstrände mit ihren tanzenden Palmen. Sie verbergen eher die sich nahenden Wirbelstürme, die von Juni bis November dauern, und gemäß den Wetterfröschen dieses Jahr besonders intensiv ausfallen sollen.

Ihre Hilfsbereitschaft – unsere Verantwortung
Seit dem Erdbeben vom 12.Januar hat unsere Stiftung einen ungeahnten Zuspruch erfahren dürfen. Bis am 15.Mai 2010 erreichte das Sammelergebnis 238’871,25 CHF. Wir möchten allen Personen und Organisationen sehr herzlich danken, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben. Dieses Vertrauen verpflichtet uns zu einer enormen Verantwortung hinsichtlich der Verwendung dieses Fonds.

Sammelergebnis zZ. 114’500 US $ / 125’950 CHF / 86’862 €

Partner Projekte Nothilfe Wiederherstellung Bedarf lt.Glückskette
CHRD Centre Haïtien de Recherche et Développement – Erste Hilfe für die Kinder im Norden
– Psychosoziale Flüchtlingskinderhilfe
5000 50000
CPRAH Organisation des pêcheurs – Trinkwasseraufbereitung Léogâne 3000
FONDATION Jean-Marie Vincent – Beitrag an einen Gedenkwald
– Bewässerungsprojekt
2000 50000
KOFIP Collectif du financement populaire – Nothilfeprogramm
– Mikrokredite für Sämereien
– Landwirtschaftskredite
20000 59500 50000
MAINS UNIES – Trinkwasserverteilung
– Nahrungshilfe für Bébés und Schwangere
– Hygiene und Schutträumung
10000 15000 50000

Situation unseres Partners KOFIP ( Collectif du financement populaire )

Am 17.April und 1.Mai sind die Departements-Koordinatoren in Port-au-Prince zusammengetreten und haben zum erstenmal das Chaos in der Hauptstadt selber erlebt. Auch mussten sie erfahren, wie schwierig sich die Lage in der Provinz darstellt.

  1. Sie haben von extremen Missständen in der gastgebenden Landbevölkerung berichtet, deren Dichte zum Teil 50 Personen/Wohnung übersteigt
  2. Trotz der extremen Migration aus der Stadt gegen das Land haben die Organisationen den gastgebenden Bauernfamilien kaum geholfen
  3. Ihre Vorräte an Nahrung und Geld sind ausgegangen
  4. die während Jahren mühsam gehäuften Ersparnisse schmolzen weg
  5. Die durch KOFIP-Kleinkredite noch bestehenden Arbeitsmöglichkeiten sind weggeschrumpft

Unsere Stiftung „Hand in Hand“ hat zunächst versucht, die KOFIP aufrecht zu erhalten, deren Hauptgebäude ja auch zusammengestürzt ist, wie man auf dem ersten Foto sieht. So gelang es, die Verteilung der dringendsten Nothilfe zu sichern. Sodann waren die Mittel zu beschaffen, um die Kredite für den Ankauf von Sämereien, Vieh und für die Einrichtung von Märkten bereit zu stellen.

Wir besprechen uns mit den nationalen und regionalen Behörden, hier mit Mitarbeitern des Gesundheitsministeriums. Zur Sprache kommen Mindestanforderungen an eine örtliche Hygiene, die nicht nur technische Anlagen, sondern auch Beeinflussungs- und Erziehungsmaßnahmen der Bevölkerung umfassen müssen. Denn diese ist sich so moderne Einrichtungen noch nicht gewohnt; sie muss noch lernen, sich für hygienische Anforderungen zu interessieren. Wahrlich kein leichtes Spiel. Ähnlich geht es mit neuen Methoden von Gesundhaltung, Mütter- und Säuglingsernährung. So müssen zuerst allen die Vorteile schmackhaft gemacht werden, die es bringt, aus Zuckerrohr statt Clairin (so nennt man hier die betreffende Rhum“qualität“) Melasse herzustellen. Melasse ist ein honigartiger dunkelbrauner Zuckersirup, der als Nebenerzeugnis in der Zuckerproduktion aus Zuckerrohr anfällt. Melasse enthält neben etwa 60 % Zucker noch Vitamine und viele andere Produkte. Das überaus nahrhafte Getränk wird dann den schwangeren Frauen und ihren Babys in unseren 85 Lagern abgegeben.

Hand in Hand wird weiterhin finanzielle und technische Hilfe leisten, um Projekte und Programme nachhaltig umsetzen zu können, zusammen mit unseren Partnerorganisationen, zu denen bald auch die Glückskette gehören wird. Zur Kontrolle unserer Projekte werden wir uns regelmäßig an Ort begeben, nächstmals im Juli.

Sie sehen, die Situation in Haiti, dem Nachbarstaat der Dominikanischen Republik, ist komplex und wird es mehr und mehr. Die Stiftung Hand in Hand ist eine Hoffnungsträgerin für das gebeutelte Land und seine tapfere Bevölkerung. Die Mitglieder des Stiftungsrates werden ihre Ärmel weiterhin weit zurückkrempeln und ohne Rücksicht auf ihre Zeit tatkräftig zupacken, damit die Ärmsten ernten können, was Sie, liebe Mitglieder und Spender, gesät haben.

Gemeinsam helfen wir den Haitianern ihren Traum der Unabhängigkeit zu verwirklichen, frei zu leben, in einer besseren Welt, gerechter und solidarischer.

Hand in Hand wird weiterhin finanzielle und technische Hilfe leisten, um Projekte und Programme nachhaltig umsetzen zu können, zusammen mit unseren Partnerorganisationen, zu denen bald auch die Glückskette gehören wird. Zur Kontrolle unserer Projekte werden wir uns regelmäßig an Ort begeben, nächstmals im Juli.

von Paola Iten und Nicolas Gachet
übersetzt von Otto Hegnauer

Fotos Copyright ©latinapress/hegnauer

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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