Haiti: Vom Trümmertourismus zum Voyeurismus

Reservoir&Zwinger

Datum: 07. Juli 2010
Uhrzeit: 14:48 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)
► Gaffer behindern Bergungsarbeiten in Haiti

Neugier, Sensationslust, Schaulust, Erregtheit sind die Gefühle, welche nach Großunfällen, Vulkanausbrüchen, Lawinen und Erdrutschen die Menschen in die Nähe locken, statt sie in die Ferne zu treiben, in die Gebiete der Taktlosigkeit den Opfern gegenüber, in die Gefahrenzonen für sich selbst, in die Behinderungszonen für Retter und Helfer.

Als ich vom Einsturz meines einstigen Paradieses hörte, das ich 20 Jahre lang genießen durfte, hatte ich – im Gegensatz zur ganzen in- und ausländischen Interessenz – überhaupt keine Lust, meine Ruinen wieder zu sehen, geschweige denn so rasch wie möglich. Wozu auch ? Ich habe gehört, wie sie schon vor der Abreise ein Anziehungspunkt der Gaffer wurden, selbst der überlebenden höchsten Blauhelm-Offiziere, die mein Ex-Haus knipsen kamen.

Und ich hatte lange noch geglaubt, dies könnten „wichtige“ Gaffer sein, solche von Staaten, Spenderorganisationen, die mir etwas vergüten würden, aus den Spenden der Welt. Keinen Cent habe ich erhalten. Versicherungen zahlten ja für Naturereignisse ohnehin nichts, für kriegerische Ereignisse wäre das anders gewesen, vielleicht.

Selbst zurück in Europa war es noch so. Ich nehme mich selbst an der Nase. Wer fühlt sich denn nicht gern einmal im Mittelpunkt, plötzlich als „Mann der Woche“ gefeiert, unversehens in einem Sessel gegenüber Frank Elstner. Dein Umgang mit starken Gefühlen wird plötzlich weltweit beobachtet, kritisiert, bewertet. Beherrschst du sie, oder beherrschen sie dich?

Jetzt lebe ich wieder über der Stadt und erlebe sie von weitem, die Stadt, die Trümmer, und die Gefühle. Und ich habe keine Lust, mich durch die Trümmerberge da unten näher zu kämpfen und das in Großaufnahmen zu sehen, besonders nicht die Toten, die da noch drunter liegen, und die Seuchen, die daraus hervor wehen. Doch meine Leser erwarten hie und da ein Foto, was sich denn tut mit ihren Spenden, und so werde ich in den stinkenden Apfel beißen müssen, wohl oder übel.

Nach Miragoâne zu reisen vor zwei Wochen reizte mich ja auch nicht unbedingt unwiderstehlich, und doch bin ich froh, mich aufgerafft zu haben: die Reportagen über die Zeltstädte in Gressier und Léogâne oder über das Spitalexperiment in Miragoâne wären sonst nicht entstanden. Auch meine positive Beurteilung der effizienten Hilfeleistungen und der Lebensfreude der in den Lagern spielenden Kinder wäre sonst nicht möglich gewesen.

Ich stelle auch fest, dass sich allmählich ein gewisses Interesse an einer Art Trümmertourismus entfaltet. Zunehmend entstehen Anfragen, ob man wieder ins Land kommen könne, dürfe oder solle. Ich bin da zuerst mal skeptisch und frage mich, wie weit solcher Tourismus mit Voyeurismus gleichgesetzt werden müsse. Dabei bin ich mit der landläufigen Erklärung des Begriffes keineswegs einverstanden, Voyeurismus sei eine Form der Sexualität, bei der heimliche „Spanner“ durch verstecktes Beobachten sexueller Handlungen sich selber erregen wollten.

Für mich hat Voyeurismus nichts mit Lust zu tun. Schaulustige, die als Gaffer die Bergungsarbeiten behindern sind unbeliebte Voyeure und sollen bestraft werden. Die Gefühle der Betroffenen zu „bewerten“ ist taktlos und bringt nichts. Ich frage mich auch, wie viel das gegenwärtige Fußballfieber mit Voyeurismus zu tun hat. Möchte man die Gefühlsausbrüche miterleben, die der Sieger, und die der Verlierer? Möchte man sich einer Partei anschließen, die man nicht kennt, aus lauter Vorurteilen und Irrglauben? Oder möchte man einfach mit schreien und mit kreischen, mittanzen und irgendetwas mitmachen, was sich in allen Zelten, auf allen Hausdächern abspielt ? Einfach was die andern tun?

Erst gestern hat es hunderte von Toten gegeben. Nicht durch das Erdbeben, nein, gegenseitig totgeschossen, auch totgestochen. Fans von Brasilien, und Fans von Argentinien. Eins von beiden hat gewonnen, das andere verloren, ist doch egal welches. Wozu das alles, sage mir: wozu? Wenn die Menschheit wirklich so verrückt ist, hat sie nichts anderes verdient, als den Weltuntergang. Pardon. Oder ist es so, dass nach so einer extremen Katastrophe die Gefühle ihren Freiraum zurückgewinnen können, müssen? Ist es das Positive, die Kraft, die im Leben und im Menschen drin steckt, dass die immer noch stärker ist als der Tod? Viele schlagen sich tot, wie beim Karneval. Und viele sagen dazu, schnippisch-lakonisch, das sei eben das Tier. Das in jedem von uns noch stecke. Irrgläubige, das Tier ist besser! Würde NIE so etwas tun, so etwas!

Gerade ist der Match zu Ende. Argentinien-Deutschland, vier zu null. Man hört, spürt und sieht es, durchs ganze Land. Auf allen Dächern. In allen Zelten. Deutschland über alles, hat halt sein müssen. Wenn ich nicht ein eingefleischter Verallgemeinerungs-Gegner wäre, würde ich jetzt sagen „sind eben doch die besten“. Pardon, meine meisten Leser sind auch Deutsche. Es sind die besten Leser, sie halten Kontakt, schreiben zurück, wir diskutieren. Dass sie die besten waren, das war schon immer so. Nach den Spaniern. Und dann den Franzosen. Es wechselt halt, in der Geschichte, und in der Welt. Ich möchte mal, dass auch die Schwarzen, die Haitianos, ihre Chance hätten. Aber was gilt schon, was ich möchte.

Zurück zum Voyeurismus, zum Reisen hier. In Haiti, dem Nachbarstaat der Dominikanischen Republik, ist heute Reisen schwierig, das beginnt schon bei der Beschaffung des Mietwagens und des unterwegs erforderlichen Treibstoffs. Das Verpflegungsproblem muss mit Bedacht gelöst werden, denn streckenweise gibt es über Tage keine offenen Restaurants und kein trinkbares Wasser, oder die einzige Gaststätte ist gesperrt und für „Wichtige“ reserviert, wie etwa Das Lambi in Mariani, mein einstiges „Leibrestaurant“.

Für Schlafgelegenheiten ist es nicht besser. Ich erinnere daran, dass vor ein paar Wochen Frau Obama mit einem Team im Lande war, um die noch benützbaren Hotels aufzulisten, ihre Funde sollen spärlich gewesen sein, wurden geheim gehalten und sind seitdem natürlich auch gesperrt und durch irgendwelche Organisationen belegt. Trotzdem möchte auch ich so bald wie möglich wieder reisen und berichten, Sie sind ja dann bereits hier auf latina-press an der Quelle.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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