Haiti: Drogen gegen das Trauma

Baden2

Datum: 15. Juli 2010
Uhrzeit: 16:44 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
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Drogen sind Wirkstoffe, die in lebenden Wesen Funktionen verändern. Sie führen häufig zu einer Abhängigkeit oder „Sucht“. Verbreitete Drogen sind Koffein (im Kaffee), Nikotin (im Tabak), Alkohol (im Clairin) sowie Cannabis (aus Hanf). Schon vor 6000 Jahren kannten die Menschen den berauschenden Effekt der Mohnblume, und der Effekt von Alkohol in vergorenen Früchten war der Menschheit seit langem bekannt. Schon die Mesopotamier und die Ägypter kultivierten Alkohol.

Ärzte, Chirurgen und andere Könner brauchen Drogen, um Schmerzen zu lindern, Leben erträglich zu machen, dort wo es sonst unerträglich wäre. In unseren ursprünglichen Landen sind viele Menschen süchtig nach Arzneimitteln, besonders Drogen. Hier in Haiti, dem Nachbarstaat der Dominikanischen Republik, bleibt dafür kaum Platz, hier ist man höchstens noch süchtig nach Musik, Fußball, Medienprodukten und Unterhaltung. Vielleicht auch nach Sex und Religion, aber das beides könnte die kopflose Bevölkerungsexplosion schüren, und wäre damit auch wieder kontraproduktiv, ich mag leider nicht sagen „unwirtschaftlich“. Und ich muss, auch leider, sagen, gegenwärtig ist ganz Haiti in einer „postoperativen Situation“. Die Opfer erleiden millionenweise Schmerzen. Sie bedürfen Drogen, Drogen jeder Art!

In karibischen Landen ist Musik die Hauptdroge, und eine Sprache, die keiner Übersetzung bedarf, die weltweit jeder versteht, wenn auch nicht jeder „sprechen“ kann, die das babylonische Syndrom nicht kennt, ein Wirkstoff, ein Betäubungsmittel, eine Droge, die nützlich und nicht verboten ist, die Wunder bewirkt, ansteckt, Gefühle beflügelt, Massen bewegt, ein Gesundmittel, aber keine Krankheit ist.

Kinder jeden Alters laufen weltweit auf den Straßen umher, mit Drahtpfropfen in den Ohren, Musik inhalierend und sich dazu ohne sichtbaren Grund bewegend, tanzend, kaum hörend wenn man sie anspricht. Wenn sie seltenerweise selber sprechen oder mitträllern, haben sie das gute Maß verloren und überlasten ihre Stimme. Schulabgänger rotten sich in Zelten zusammen, frustriert weil sie keine Stelle finden, und hören, oder viel besser, machen selber Musik und finden so wenigstens Trost statt Arbeit.

Manchmal gelingt ihnen sogar ein Kunstwerk, etwa wenn sie Seelennot oder Staatsprobleme in kluge und hinreißende Worte kleiden, in Compa-Melodien, und -Rhythmen. Jedenfalls ist es wunderschön, und bringt Zufriedenheit, Glück, gepaart mit genügend Lautstärkepegel, vielleicht sogar Erfolg.

Nur mit Musik als Droge ist erklärbar, dass nach dem schrecklichen Beben vom 12.Januar, das immer noch andauert, das in 35 Sekunden die meisten Menschen tötete, die sie liebten, die ganzen Familien, alle Freunde, ihr Obdach, ihr ganzes Hab und Gut zerstörte und all das was folgte, die tödlichen Seuchen, die Traumas, die weiteren Lebensumstände überlebbar waren, dass die Menschen zwischen und in den Zelten bald wieder sangen und tanzten, die Kinder spielten. Nur Musik betäubt und lenkt so stark von der Verzweiflung ab, dass so viele weiterleben, singen und sogar wieder lachen können.

So viel Verzweiflung. Millionen sind traumatisiert, auf der ganzen Welt, und besonders hier. Ich bin keine Ausnahme. Viele suchen Zuflucht im Alkohol, im Rhum, im Clairin, aber vor allem in der Musik. Rundum singen sie, die andern. Gerade jetzt. Aber ich muss sagen, das stellt mich auch auf, mehr als das Fußballgeschrei, das etwas sehr Ähnliches ist, die Unterhaltung, das Sexgetue, die Neu-Gier, oder all die anderen Trockenheiten ( „Drogen“ bedeutet ja ursprünglich „ausgetrocknet“ ).

Und all die Potentaten, die Verantwortlichen, die Entscheider, im In- und Ausland, auf der ganzen Welt. Bei allzu vielen hat man den Eindruck, dass sie in die Drogen fliehen. Vor allem in den Alkohol. Da verstummt man, was soll man dazu sagen. Wenn man einen Flächenbrand unmessbaren Ausmaßes mit Pflästerli löschen will. Wenn Milliarden zu Pflästerli zusammenschmelzen. Und doch kann ein Pflästerli aufstellen. Und wichtig ist zuerst, dass es dich etwas aufstellt. Bevor es zu spät ist.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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