Gastfreundschaft in Haiti

Einsiedlerkrebs

Datum: 25. Juli 2010
Uhrzeit: 21:06 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Sogar im Meer üben sie Gastfreundschaft, zum Beispiel die Einsiedlerkrebse. Sie klettern an Korallen und auf dem Meeresboden umher und tragen Schneckenhäuser oder ähnliche hohle Gegenstände mit, die ihnen als Behausung dienen. Wenn sie ein größeres Haus brauchen, ziehen sie einfach um. Viele bieten Untermietern Gastrecht, die sich auf Gehäuse oder sogar am Körper festsetzen. Die Krebse bieten den Untermietern gratis Transporte, die Leistung der Gäste ist das Herumwirbeln von Nahrung. Einige leben zusammen mit Schmarotzer Rosen, die profitieren „ohne“ Gegenleistung. Erst bei ihnen könnte man von Gastfreundschaft sprechen.

Auch bei den Menschen gibt es vielerlei Gastfreundschaft. Besonders in Entwicklungsländern ist sie hoch entwickelt. Vielleicht heißen sie deshalb auch so. Manchmal erwarten die Gastgeber, dass etwas zurückkommt, besonders wenn Arme Reiche beherbergen und bewirten. Meist erfüllt sie das mit Stolz, und durch ein Gegengeschenk können sie gar beleidigt werden. Gott selbst hat sie ja bereits beschenkt. Oder die Ablehnung eines angebotenen Gastrechts gilt als Beleidigung, oder der Abbruch vor oder nach drei Tagen auch, es gelten da oft keine oder subtile Regeln, und ein Gast kann durchaus ins Fettnäpfchen treten. „Verflixte Gastfreundschaft“ hat das ein alter Film genannt, und der traf den Nagel auf den Kopf.

Aus aktuellem Anlass einige Geschichten. Ich beginne mit einer Beduinen- und ende mit einer Königsgeschichte. In Beduinenzelten der Sahara war ich etlichemal zugast. Da hab ich auch gelernt, was Gastfreundschaft heißt. Vor dem Teezeremoniell schlachteten die lieben Gastgeber meist ihr einziges Huhn oder Geißlein. Dann folgten köstliche Lagerfeuer-Geschichten und Wechselgesänge. Vor dem Weggang bot man diskret ein Geldscheinchen, das oft abgelehnt wurde.

Mit Königsgeschichten muss ich langsam aufpassen, denn auf die der letzten Tage kommen bereits gehässige Reaktionen, von Königsanbetern, die offenbar deutsch verstehen: die Geschichte sei respektlos und verhunze verdiente Könige… Das liegt mir natürlich fern. Könige fürchten eben um ihre Ehre, und um ihre Existenz. Aber der Betreffende lebt ja gar nicht mehr, und existiert nur in den Köpfen. Und Könige fürchten auf Reisen um ihr Leben, besonders in solchen Ländern. Als ich als Reiseleiter mit zwei Cars voller Touristen – Lehrer, Politiker, Schriftsteller und ähnliche – unterwegs war, kam der zuständige Monarch auf die Idee, wegen einer geplanten Reise seine Pläne zu verwischen und dadurch allfällige Terroristen abzulenken. Dazu sperrte er kurzerhand alle Hotels, und die sind dort dünn gesät. Mein Auftraggeber Kuoni ließ sich nicht lumpen und arrangierte mit dem Hof eine unvorhergesehene Dreitages-Unterkunft in einem Königspalast. Das war für uns Erlebnishungrige auch die Krönung und setzte wohl viele Geschichten ab.

Wie das mit der Gastfreundschaft beim haitischen Kulturboss und Nachkommen der Königshüter steht, haben Sie ja eben erst in Royale-Dahomey gelesen ( wenn nicht, lade ich Sie ein das schleunigst nachzuholen ).

Nun also, schließlich mussten wir den langen Holperweg wieder unter die Räder nehmen, wohl oder übel. Ohne Kaffee ging’s weg, denn in einem fünfbesternten, überbepreisten Hotel sind die Frühstücksstartzeiten so spät angesetzt, dass man am Reisetag lieber auf den Kaffee verzichtet. Zeit wird wieder zu Geld, für den Gast durch frühere Zielerreichung, für das Hotel durch Einsparen von Frühstückskosten. In Limbé reichte es zu einem kurzen Besuch im Indianermuseum, die präsentierten Steinwaffen und -werkzeuge sind ganz eindrücklich und könnten aus jedem ausländischen, auch schweizerischen, Steinzeitmuseum stammen.

Dass unser seit dreizehn Jahren betriebenes Fahrgestell die Waschbrettstrecke den Berg hinauf noch aushielt, und das in Haiti, beweist doch etwa, dass ich ein guter Fahrer bin, nicht wahr? Etwas muss man ja schließlich auch können. Mehr haperte es mit der Navigation, GPS war noch nicht dabei, und so verpassten wir prompt das einzige, kleine Restaurant auf der Strecke, wo eigentlich ein leckerer Reisteller vorgesehen war. So ging es halt immer noch unverpflegt weiter, wir hätten ja einen Lunchsack mitnehmen können, so wie normale Touristen.

Unten in Gonaïves war es dunkel, und in haitischer Nacht ist eine Weiterfahrt nicht zu wagen. Die Gründe mag ich nicht aufzählen. Zudem sanken wir vor Schüttelmüde zusammen und waren froh für ein Bett; dass das kleine Hotel auch kein Restaurant hatte, war demzufolge gleichgültig. Frühmorgens ging es weiter, natürlich nochmals ohne Kaffee. An hunderten bienenhausähnlichen Nothäuschen, deren knallbunte Farben man im Zwielicht kaum erkennen konnte, an zerrissenen, immer noch bewohnten Zelten der Hilfswerke, und an einzelnen, nach wie vor belebten Schlammsteinruinen vorbei, und schließlich über fertiggestellte Teile der längsten Brücke der Karibik, die mit den Weltspenden gebaut Katastrophen und Armut eigentlich überwinden sollte aber nie fertig wurde.

In Monrouis finden wir endlich ein Restaurant, das mir gefällt, mit Wandmalerei, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft, das Restaurant Adventiste. Besonders sympathisch, weil meine Frau Rosi auch Adventistin ist. Sie wird jetzt wohl, fern in der Schweiz, in Wirklichkeit ein karibisches Reisgericht genießen, wir hier müssen uns wieder mit einem virtuellen begnügen, fein auf die Fassade aufgemalt. Selber schuld, dass ich wieder nach Haiti gezogen bin, aber wegen einem Reisteller würde ich immer noch nicht tauschen.

Natürlich außer Betrieb, zu essen gibt’s immer noch nichts. Wir machen dennoch Pause, und beobachten Weiße, die Abfall zusammen ramüsieren und in Ruck- und Plastiksäcke abfüllen, die Einheimische mittragen, oder in Schubkarren mitschieben. Es sei eine Aktion von Prominenten, um Aufmerksamkeit für das Abfallproblem zu erzeugen, Aufsehen zu erregen, Vorbild zu spielen. Und tatsächlich lachen die Einheimischen nicht ob der Politiker: „Gade, Blancs ranmase fatra!“ (Schaut, die Weißen sammeln Abfall!). Oder machen sie etwa PR für ihre Wiederwahl, für ihren Namen oder sonst etwas? Verstecken sich Fotografen dahinter  Jedenfalls ist Haiti jeden Tag ein Erlebnis wert !

Die Abfahrt verzögert sich, mein guter alter Mazda will nicht mehr. Alle Niveaukontrollen nützen nichts, alles scheint in Ordnung, scheint eben nur. Stückweise fahren wir noch ein paarmal weiter, bis wir endgültig hinter dem Mond landen und unserem Mechaniker nach Pétion-Ville telefonieren, zum Glück gibt es das Handy! Nach Stunden kommt er per Motorrad samt Begleiter, und nach weiteren Stunden entscheidet er auf Abschleppen, das Geräusch sei zu gefährlich.

Schließlich fährt der Motorradfahrer allein zurück. Wir müssen an die Nacht denken, sie bricht demnächst herein. An der Küste gibt es einige Touribeaches, natürlich mit Touripreisen, die US-Dollars sind ausgegangen, und die nächsten Banken stehen in Gonaïves oder Port-au-Prince. Mit einer Kreditkarte könnte ich anstandslos bezahlen, für alle. Aber da beginnt ein anderes Problem: ich musste meiner Frau Rosi vor Abfahrt nach Haiti „heilig geloben“, nie mehr mit einer Kreditkarte zu bezahlen, sie möchte die Dinger überhaupt abschaffen, angesichts unseres seismischen Totalverlusts in Gressier und einschlägiger Erfahrungen mit Kreditkarten. Um ihr beim Sparen für ein neues Haus zu helfen und dem Familienfrieden zulieb, bin ich die Bedingung eingegangen, und so stehe ich jetzt vor dem Konflikt, „Wortbruch oder Notlösung“. Ich habe mich für „Notlösung“ entschieden. Die sah so aus:

Wir suchten das nächste bewohnte Dingsda und ließen uns überraschen, was es war: ein Zelt, eine Höhle, ein Holzhaus, oder eine Hängematte? Es war ein kleines, haitianisches Haus aus Steinblöcken, weder erdbebensicher noch sonst sicher. Bewohnt von ein paar einfachen Menschen, einer Familie mit ihren Kindern. Unsere Einheimischen schlossen zuerst Bekanntschaft, erzählten was geschehen sei, und gemeinsam stieß man den Mazda in den Hof. Für uns selber wurde die Terrasse aufgeräumt, ich durfte als betagter Gast das einzige Bett benützen, die Familie und meine Begleiter samt Mechaniker schliefen wie gewohnt am Boden. Fast hätte ich den Hunger vergessen, aber in einer Kartonschale brachte man mir endlich das seit zwei Tagen erhoffte Reisgericht und eine Tranksame. Die neue Freundesgruppe verstand sich bestens und quasselte noch die ganze Nacht hindurch, was mich diesmal nicht störte.

Frühmorgens ging der Abschleppzug weiter in die Prinzentrümmer, und ich hatte wieder einmal erlebt, was Gastfreundschaft bei unverdorbenen Menschen heißt.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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