“A(H1N1)”: Schweinegrippe in Haiti

damoklesschwert

Datum: 23. November 2009
Uhrzeit: 07:24 Uhr
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Redaktion
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damoklesschwertÜber die Panik zur Schweinegrippe habe ich meine Meinung schon früher geäußert. Haiti war seit langem auf der Hut; Hilfssendungen aus „infizierten“ Spenderstaaten wurden nicht eingelassen, die Grenzübergänge wurden mit Quarantänezentren und Spezialkameras ausgestattet, das Grenz- und medizinische Personal genoss Spezialausbildungen, und Unmengen von Tamiflu wurden importiert. Während die Krankheit sowohl in der dominikanischen Nachbarrepublik als auch in den Helferstaaten schon vor einiger Zeit auftauchte, sind auch die ersten Fälle der H1N1 in Haiti aufgetaucht. Zwei UNO-Soldaten aus Chile wurden mit Symptomen von H1N1 hospitalisiert, und ihre Mannschaftskollegen wurden unter Quarantäne gestellt. Beim dritten Fall handelt es sich um einen jungen Haitianer, der selbst das Krankenhaus aufsuchte, auch seine Familie steht unter ärztlicher Aufsicht.

Laut Aussagen der Regierung verfügt Haiti über einen ausreichenden Bestand an Tamiflu zur Bekämpfung des Virus. Auch wenn ich die Gefährlichkeit von Pandemien nicht verharmlosen will, ist doch auch hier, wie bei anderen Gefahren, vernünftiges Verhalten eher am Platz als panische Angst. Lastwagenkolonnen voller Blauhelme mit schweren Waffen zwischen den Knien und Chirurgenmasken vor der Nase reizen mich eher zum Schmunzeln, aber es schickt sich halt in einem „Land“ wie Haiti alles durch die schwärzesten Brillengläser zu sehen.

Wichtiger als Chirurgenmasken und Tamiflu ist Sauberkeit, und die darf unter dem Damoklesschwert der Schweinegrippe ruhig verbessert werden. Auch wenn mir die meisten Haitianer einen sauberen Eindruck machen: die beliebtesten Geschenke sind Brot und Seife, wenn sie irgendwo Wasser finden, baden sie täglich, waschen sich und ihre Kleider jeden Augenblick und wischen selbst den Belag losen Vorplatz ihrer Hütten wie wenn sie nichts anderes zu tun hätten. Einzig beim Hände waschen müssen die meisten noch dazulernen, etwa nach zweifelhaften Kontakten mit schmutzigen oder kranken Menschen, Tieren, einem Knäuel Papiergeld oder nach Latrinengeschäften. Stattdessen essen dann viele mit ungewaschenen Fingern.

Fleißiges Hände waschen und Sauberkeit beim Partnerverkehr erspart nicht nur Tamiflu, sondern auch andere Medikamente, und schützt nicht nur vor Schweinegrippe, HIV, und anderen Krankheiten. HIV und andere Krankheiten hat Haiti überraschend gut im Griff. Durch Sauberkeit, Aufklärung und natürlich auch Medikamente. So wurde bei Micheline Leon das Aids-Virus HIV diagnostiziert, und ihre Eltern wollten schon einen Sarg für sie ausmessen lassen. 15 Jahre später spaziert die Frau in ihrem Häuschen umher und sieht ihren drei Söhnen und der Tochter beim Spielen zu. Alle vier Kinder wurden nach der Diagnose geboren. Keines wurde infiziert. «Die Leute sagen, ich bin krank, aber das bin ich nicht. Ich bin nur infiziert.» erklärt die 35-jährige großmütig. Die Infizierten rate mit dem HI-Virus wird mit 3 Prozent der Bevölkerung beziffert.

Als die rätselhafte Krankheit Anfang der 80er Jahre auftauchte, wurde befürchtet, dass sie ein Drittel der Bevölkerung auslöschen könnte. Stattdessen blieb die Infektionsrate im einstelligen Bereich, und sie sank sogar. Auch andere Krankheiten hat Haiti überraschend gut im Griff. Verbreitet sind noch immer Tuberkulose, Gelbsucht, Kinderlähmung, Bindehautentzündung, Krätze, Läuse, Wurm- und Darmerkrankungen, und natürlich Unterernährung.

Die Ärmsten Haitis haben keinen Zugang zu einer angemessenen Notfall- und Geburtshilfeversorgung. Sie sind von der kostenlosen Notversorgung durch Ärzte ohne Grenzen abhängig. Die Gebühren, die private wie öffentliche Gesundheitseinrichtungen verlangen, sind für die meisten Menschen unbezahlbar. Öffentliche Gesundheitszentren und Krankenhäuser leiden unter Managementproblemen, Streiks, fehlendem Personal sowie Mangel an medizinischem Material und Medikamenten.

Kaum die Hälfte der haitianischen Bevölkerung hat Zugang zu medizinischer Versorgung. Der Etat des Gesundheitsministeriums muss dringend aufgestockt werden, da die Kosten durch die Unwetterkatastrophen ungemein angestiegen sind. Sonst könnte die Versorgung im Land völlig zusammenbrechen.

In Port-au-Prince befindet sich seit 1920 die Staatliche Universität. Dazu gehört ein Spital mit rund 1800 Beschäftigten. Dort wird organisierte Erpressung betrieben. Die Bettplätze werden an den Meistbietenden verkauft, besonders in der Notaufnahme. Medikamente lagern im Außenbereich, Ärzte fordern Geld für Gesundheitsleistungen. Helfer im Krankenhaus, in der Küche etc. haben nicht die erforderliche Ausbildung, auch werden Löhne seit längerem nicht gezahlt.

Man hofft auf eine Entspannung Ende dieser Woche. Seit mehreren Tagen streiken 200 Mitarbeiter. Sie sollen nun ihren Lohn erhalten, da sie Arbeitsverträge haben. Die restlichen Mitarbeiter arbeiten ohne Vertag und werden dementsprechend nicht bezahlt. Gleichwohl sind sie für den reibungslosen Spitalbetrieb unentbehrlich. Weitere Streiks sind deshalb wahrscheinlich.

Die Unsitte, dass Vertragslose nicht bezahlt werden, auch außerhalb der Spitäler, ist in den armen Ländern weit verbreitet. Auch in der Landwirtschaft, in der Hotellerie, und in andern Branchen.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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