Auf den Bäumen in Haiti lebt man länger

Exume

Datum: 23. November 2009
Uhrzeit: 15:27 Uhr
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Redaktion
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

ExumeAuch wenn wir es nicht wahr haben wollen und gerne vorlügen, dass wir immer jünger würden, kommt niemand um das Altern herum, auch wenn man darunter vieles verstehen kann. Man setzt Ringe an. Und, Sinn oder Unsinn, es gibt auch einen Zählrahmen dafür: die Jahre. Ich zähle bald deren achtzig, dank Haiti, Lebensweise und Glück. Ist ja auch mit ein Grund, dass ich vor rund zwanzig Jahren auf die Insel gezogen bin, anfänglich Versuchs- und ferienhalber, dann immer länger – und seit mehreren Jahren zog es mich überhaupt nie mehr weg.

Und so wie ich Langezeit zwischen zwei Heimaten pendelte, so schwinge ich auch in Haiti zwischen zwei Schlafstätten hin und her: meinem großen Haus in Gressier, und dem kleinen Berghaus von Melissa in den „Montagnes Noires“, den „Schwarzen Bergen“, die steil und hoch über der Prinzenstadt liegen. Der Tiefblick auf die Stadt mit dem blauen Golf, dem großen Graben der die ganze Insel durchzieht, mit seinen Seen bis tief hinein in die Dominikanische Republik und die jenseitigen Randgebirge mit ihren neuen Passstraßen ist unbeschreiblich, und vor allem scheint aus dieser Distanz alles sauber und bunt. Der einzige „Luxus“ den ich mir hier auf den Bergen leistete ist das Internet mit der zugehörigen Technologie.

Die Schwarzen Berge haben den Namen wegen dem dicken Vorhang, der fast jeden Abend aufzieht und die Szene verdeckt, bevor es zu schütten beginnt, für ein paar Minuten oder auch die ganze Nacht. Ich liebe diesen Zweitwohnsitz wegen der Einfachheit und der netten Menschen, die mich umgeben, wo man die von Kolumbus geschilderte Liebenswürdigkeit rundum spürt. Ich meine beileibe nicht nur die rührige Familie von Melissa mit ihrem Mann und den vier Kindern – meist noch vermehrt durch Zugewanderte. Ich meine auch die freundlichen Einheimischen aus der Nachbarschaft, vor deren Streitereien und Querelen, die es natürlich gibt wie überall, ich durch Alter, Sprache und Hautfarbe abgeschottet und geschützt bin.

Das Bergklima hier oben kann recht aggressiv zupacken, jetzt im Tropen“ winter“, und gerade heute gedenke ich wieder für ein bis zwei Wochen nach dem milderen Gressier zu wechseln, um meinen Schnupfen auszukurieren. Die Nachbarn hier scheinen sich das Klima besser gewohnt zu sein als wir ursprünglichen Schweizer Bergler, denn einige spotten der offiziellen Lebenserwartung von 50 Hohn. So hat es Exumé auf gegen 90 Lenze gebracht und lässt mich damit 10 Jahre hinter sich, und wie!

Exumé ist ein überaus liebenswürdiger Kerl der mir täglich zuwinkt oder ein paar freundliche Worte mit mir wechselt. In seinem einfachen, wellblechgedeckten Steinhaus ohne Fenster, mit lediglich einem Blechstück als Türe führt er seit Jahrzehnten ein Witwer- und Einsiedlerleben und macht vor, was „rüstig“ heißt: er kocht eigenhändig mit selbst geholtem Holz, holt unten im Tal täglich Wasser und badet trotzdem jeden Tag, und als bekehrter Protestant marschiert er sonntags eine Stunde die Steilhänge hinab zur Kirche.

Ich erschrak als ich zum erstemal sah, wie behänd er in die Baumkronen klettert und Blätter pflückt. Ähnliches habe ich höchstens bei unseren angeblich nächsten Verwandten in Afrika gesehen. Aber welche Blätter was bewirken weiß niemand besser als Exumé, denn er war „Docteur-Feuilles“, Blätterdoktor, bei uns würde man etwa sagen „Kräuterpfarrer“. Er bewirkte Heilungen und bekam als Erfolgshonorar von dankbaren Patienten jeweils ein paar Gourdes.

Man könnte auch sagen, „Naturheiler“. Zwar kann auch Exumé die marode Natur nicht mehr heilen, weil dazu selbst sein langes Leben niemals reichen würde, aber er kann kranke Menschen heilen MIT der Natur und ihren Kräften, mit natürlichen Mitteln, ohne Medikamente, mit Blättern und Kräutern, taufrisch oder luftgetrocknet, gekocht oder als Tee, er weiß immer womit und wie. Und vor allem verhüten, dass sie überhaupt krank werden, denn dann ist es bereits zu spät.

So beobachte ich, wie er wie die Vögel lebt, den Tag nicht verlängert ohne Not mit künstlichem Licht, er hat ja auch keines, und keine Flimmerkiste, und kein Radio. Und wenn es dunkel wird, dann stellt er selbst das Telefon ab, und schließt die Wellblechtür. Denn jetzt ist Ruhe angesagt, und die hat niemand zu stören.
Voudou und Klamauk hat er sich abgewöhnt. Als guter Christ weiß er zu beten und kennt die Kräfte des Glaubens. Er war noch nie bei einem Arzt und bezeichnet Jesus als seinen einzigen. Er weiß dass alles was der Körper tut im Kopf beginnt und weiß wie lebt. Er ist Analphabet kennt das Wort „Placebo“ nicht. Aber er weiß was Placebo ist und kann damit Menschen heilen, Polen und umpolen.

Er ist Analphabet kennt das Wort „Motivation“ nicht. Aber er weiß was Motivation ist und kann die erzeugen und einsetzen, er weiß FREUDIG zu leben. Niemand hat so gelernt zu leben wie er. So ist er auch ein Lebensberater, bei uns würde man hochtrabend sagen „Coach“. Bei uns würde man über den Sonderling die Nase rümpfen oder spotten. Denn bei uns kennt jeder Wörter wie Placebo, Motivation und ganz viel andere Wörter, – und weiß nichts damit anzufangen. Exumé aber hat mit seinem Zustand nach 90 Lenzen gezeigt, wie der Hase läuft.

Und damit niemand glaubt, Armut gehöre zu diesem Lebensstil, das Beispiel etwas entfernterer Nachbarn, auch aus den Schwarzen Bergen. Matéus und seine gleichaltrige Frau sind ein zerbrechlich wirkendes Ehepaar, das fast hundert auf dem Buckel hat, noch zehn Jahre mehr als Exumé, oder zwanzig mehr als ich. Über ihre Lebens- und Wohnweise weiß ich nichts Näheres, doch ich begegne ihnen zuweilen auf der engen Bergstraße, denn beide steuern ihren 4×4 noch selbst, einen Chauffeur brauchen sie nicht. Und da ein solcher Tête-Boeuf fünfstellige US$ kostet, scheint der Beweis erbracht: auch in der ( sozialen ) „Oberschicht“ kann man die Lebenserwartung verdoppeln. Man muss nur wissen wie.

In Turnier gegen den Säuglingstod konnten wir lesen, dass man die Sterblichkeit im ersten Lebensjahr als „Säuglingssterblichkeit“ bezeichnet, und dass sie in Haiti 9,2 %, in Deutschland 0,38 % beträgt ( 0,38 % ). Wir haben auch gelesen, dass in Haiti die mittlere Lebenserwartung auf 50 Jahre gestiegen ist. Dazwischen muss es ein magisches Schwellenalter geben; wer dieses erreicht, hat „durchgesucht“ und ist mit allen Immun-Essenzen gewaschen. Für ihn gilt die mittlere Lebenserwartung nicht mehr, ihm steht ein laaanges Leben bevor. Doch Exumé hat allen Zahlen und Jahrringen ein Schnippchen geschlagen. Auf den Bäumen lebt sich länger!

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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