Jeder Tag bietet ein besonderes Erlebnis, hier in Haiti, das sich die Karinikinsel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt und jede Nacht, Sie wissen es. Dabei gibt es nicht nur einmalige, sondern auch regelmäßige oder sonstwie wiederkehrende Erlebnisse. Das von heute Nacht will ich Ihnen nicht vorenthalten. Obschon es eines von denen ist, die jede Nacht geschehen, und ich mich längst daran gewöhnt habe.
Ich spreche von den Nachtmarktfrauen. Ja, Sie haben richtig gelesen, ich meine nicht die sonst üblichen Nacktmarktfrauen, die ebenfalls nachts ihr Unwesen treiben, die es wohl überall gibt, hüben und drüben. Ich meine die richtigen Marktfrauen, die Bergbäuerinnen, die hier jeden Morgen ihre Nummer bringen, ich habe mich längst daran gewöhnt. Doch als es das erstemal geschah, da bin ich recht erschrocken. Ich glaubte, es sei wieder jemand gestorben, oder die Zombis seien los. Ein Trauerzug marschiere und tanze hinter dem Sarg, der von jungen Männern mit ausgestreckten Armen hoch über den Köpfen getragen werde und zu schaurigen Liedern hoch in der Luft im Kreise gedreht und aufgeworfen werde, dass man den Kadaver in der Kiste herumkollern hörte, so wie in Letzter Tanz des Toten.
Um drei oder vier Uhr wird die Totenstille jeden Morgen vom rasch anschwellenden Lärm einer schwätzigen Menschenmenge durchbrochen, die sich über das fahrbare Sträßchen der Brücke tief unter der Bergburg nähert, dem Wendepunkt für jegliche Vehikel. Man sieht nur eine lange Kolonne von Laternen, die sich wie ein leuchtender Tatzelwurm über den steilen Fußpfad talwärts bewegt. Nach wenigen Minuten verschwindet die rätselhafte, lärmige Leuchtraupe in der Tiefe. Es sind die Bergler, die mit ihren Produkten stundenweit zu Tal ziehen, um sie auf den Markt zu bringen, dem wohl nochmals eine Stunde tiefer gelegenen Schluchtmarkt. Die ersten sind wohl schon um Mitternacht aufgebrochen, um rechtzeitig den Stand zu eröffnen.
Vor ein paar Tagen wurde so ein Händlerzug sogar mit Schüssen überfallen, die im engen Erosionstal in dämonischem Echo widerhallten. Diebe treten heute zum Glück wieder selten auf, aber wenn sie auftreten, kennen Sie weder Respekt noch Erbarmen.
Durch das Getratsche sind die meisten Anwohner längst erwacht. Trotzdem folgt etwa eine Stunde später schon die nächste Nummer: der Nachtwächter oder Wecksänger wandert durchs Quartier und singt durch sein Megaphon seine eigenartig afrikanischen Weisen und Gebete, urweltlich anmutende Weckhyymnen. Sie schlüpfen in die Lauscher wie ein Ohrwurm, und brauchen dieses Mal nicht einmal Laternen. Sie bleiben Langezeit im Kopf, während die Madame Sarahs ihre Stände längst eröffnet haben, tief unten in der Schlucht, und einige Gourdes verdienen. Bitter verdienen.
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