Haiti: Wann wird die Welt in der Nachbarrepublik der Dominikanischen Republik endlich normal?

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Datum: 10. Dezember 2010
Uhrzeit: 15:58 Uhr
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Otto Hegnauer
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Die normalerweise nächtliche Kolonne der Händlerinnen aus den Bergen, die auf den Köpfen ihre schweren Lasten hinunter zu den Märkten tragen, ist um 4 Stunden verspätet und braucht keine Laternen mehr. Die heutigen Madan Sarahs sind erst noch Optimistinnen, denn ich glaube eher, dass heute Märkte und Besucher ausfallen. Man hört immer noch die Martinihörner der Stinktruppen (ich meine nur weil sie Gas versprühen) es wütet Bürgerkrieg.

Am 28.Novomber waren „Wahlen“- unter internationaler Kontrolle. Es war nicht ein Kaspertheater, das damit begann, es war ein Drama, das immer schlimmer wurde. Menschen wurden getötet und verletzt. Augenzeugen behaupten, die Leichen seien an den Straßen gelegen wie am 12,Januar, Urnen wurden gestohlen, ausgeleert, mit falschen Stimmzetteln gefüllt, oder einfach angezündet. Die Offiziellen der Welt sprachen indessen von leichten Verfehlungen, welche einen Abbruch der Wahlen nicht rechtfertigen würden.

Von den 19 Kandidaten agierten 12 gemeinsam und verlangten die Annullierung der „Wahlen“, weitere waren der gleichen Meinung, konnten aber aus Verkehrsgründen nicht kommen – Verkehr gibt es seit Tagen keinen mehr. Die 12 veröffentlichten ein gemeinsam unterzeichnetes Dokument, das unter anderem die Entmachtung des Präsidenten Préval und seines Schwiegersohns Célestin verlangte. Er hatte seine Wählerschaft massenweise gekauft – lange vor der Kontrollperiode und angeblich zu 1000 HT$ entsprechend ca.100 € pro „Partisan“ und Stimme. Die gekauften „Partisanen“ sorgten für Tötung und Verletzung von Gegnern, und ließen nur Wähler zu den Urnen, die seine Wahl und keine andere versprachen.

Die Situation spitzte sich dramatisch zu, seit Tagen war es nicht mehr möglich das Haus zu verlassen. Es gibt kein Brot und keinen Treibstoff. Den muss man ohnehin vergessen, denn der gesamte Verkehr ist abgewürgt. Jetzt soll Préval den Einwohnern von Site Soley Waffen verteilt und sie aufgefordert haben, politische Gegner – die Partisanen des Gegenkandidaten Martelli – umzubringen- eine offene Aufforderung zum Bürgerkrieg. Und die UNO schaut zu und glaubt und hofft, so Blutvergießen und Ausweisung zu verhindern. Langezeit knatterten Helikopter am Himmel, Radio und Fernsehen berichten das Gegenteil, man hört Schüsse und Donnern und gewahrt nur noch Chaos. Häuser werden angezündet, Scheiben eingeschlagen, Geschäfte geplündert, vor allem niemand weiß was stimmt. Nur dass Chaos herrscht.

Die Bilder der Fernsehstudios stammen aus nächster Nähe, aus Pétion-Ville, wo auch die Studios liegen. Kein Wunder. Offizielle Radios berichten das Gegenteil vom offiziellen Fernsehen. Der Noch-Präsident behauptet das Gegenteil seiner potentiellen Nachfolger. Chaos, Schüsse, Tränengas.

Alle Straßen sind gesperrt, eine brennende Barrikade folgt der anderen. Das geht auch den Journalisten der Weltpresse nicht anders, nur glauben die vermutlich blauäugig, dass ihre Informationen stimmen, besonders die offiziellen – sie haben ja keine anderen. Ich jedenfalls kann nichts überprüfen. Im ganzen Land ist der Verkehr seit einer Woche blockiert, und als für die Straßenbarrikaden alle Autoreifen weggestohlen waren und es kein Brennmaterial mehr gab, begann man solche von parkierten Fahrzeugen zu demontieren und anzuzünden. Dann wurden gleich ganze Autos umgestürzt und zu Barrikaden übereinander gehäuft. Und als neue Idee sägen sie jetzt Bäume um und kippen sie über die Straßen. Die sind wirklich kreativ!

Sämtliche Schulen und Geschäfte sind seit Tagen geschlossen, letztere von Randalierern und Plünderern größtenteils zerstört. Zum Teil fliehen Blauhelme und Polizei vor dem wütenden Mob. Ein solches Chaos habe ich noch nie erlebt. Außer Helikopter gibt es keine Verkehrsmittel mehr.

Ich habe meine Informationen vor allem von Tele Haiti. Da zerbeulen einen die umherfliegenden Felsbrocken weniger, als wenn man draussen wäre. Mehrere vermummte Männer und Frauen erzählten, wie Préval in Martissant und andernorts Schusswaffen und Geld verteile und gefordert habe, damit auf die Partisanen des Konkurrenten Martelli zu schießen. Dieser wiederum sagte einem Sender, er hätte eben kein Geld, um wie Préval und Célestin Leute von Sité Soley zu mobilisieren und bis zum Champs de Mars zu bringen.

Die MINUSTAH verzeichnet einen Rekordumsatz an Tränengas, denn jeden Augenblick versuchen neue Gruppen wieder das Gebäude des Wahlzentrums anzuzünden. Die Rauchschwaden der Tränengasgranaten sind erst mit einiger Übung von denen der brennenden Barrikaden und Autoreifen zu unterscheiden, sie zündeten sogar Wahlbüros und Häuser an. Diesmal ist die Nase gefordert. Die Schüsse und Tränengasdetonationen knallten noch bis spät in die Nacht. In allen Städten des Landes kracht es , berichten die Medien.

Gegen Abend ein offener Brief von mehreren Senatoren, Sénatrice und Sénateur Edmonde Supplice Beauzile, Melius Hyppolite, Maxime Roumer und andere.

„Für die Geschichte und unsere Nation. Als Senatoren haben wir die Pflicht, die Interessen unserer Republik zu verteidigen. Das Chaos wurde um jeden Preis vom unpopulären Präsidenten René Préval herbeigeführt, um sich selbst mit letzter Kraft an die Macht zu klammern und um seinem Schwiegersohn Jude Célestin das Präsidentenamt zu erzwingen, und zwar unter dem Schwindel der international geforderten Stabilität, für die eigentlich die MINUSTAH bürgen sollte. Die Präsenz der Welttruppen hat aber im Gegenteil die Destabilisierung des Landes erreicht, indem sie einen René Préval mit den eingesetzten Gremien dazu unterstützte, die Schwindelwahlen durchzuführen die zum jetzigen Debakel führten. Eine Kaskade von weiteren Schicksalsschlägen geißeln nun das Volk, wie wenn es ihrer nicht genug gäbe. Und jetzt die Manipulation der Wahlen von 28. November mit dem gegenwärtigen Blutbad, das den Zorn der Bevölkerung auflodern lässt mit der Forderung, dass die Truppen der UNO das Land verlassen – unverzüglich.

Im Namen des haitianischen Volkes protestieren wir gegen seine Entwürdigung und die Missachtung seiner Souveränität. Bisher haben die eingesetzten Organe nur eine unvorstellbare Manipulation von „Wahlen“ erreicht, die diesen Namen nicht verdienen, mit erfundenen Wahlergebnissen, das Volk hat genug, endgültig. Wir wollen unverzüglich eine politischen Lösung, die Annullierung dieser Schwindelwahlen, die Verhängung geeigneter Maßnahmen gegen die Wahlkommission und die INITE-Partei, welche Urheber des Dramas sind. Wir fordern die Veranlassung zur sofortigen Bildung einer neuen Regierung mit einem Premierminister der das Vertrauen der Bevölkerung genießt und neue geordnete Wahlen herbeiführt, eine geordnete Ablösung von Präsident Préval am 7.Februar 2011 und die Aufnahme eines Dialogs mit der Weltöffentlichkeit, um in aller Unabhängigkeit der künftigen Führer Haitis zu wählen.“

Unterdessen kracht und schreit es draußen weiter: Wann wird die Welt in der Nachbarrepublik von der Dominikanischen Republik endlich normal?

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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