Meine Heilige Nacht in Haiti: Weihnachtsstimmung um die Bergburg

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Datum: 25. Dezember 2010
Uhrzeit: 13:48 Uhr
Leserecho: 2 Kommentare
Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Diese Weihnacht war nicht wie eine andere Weihnacht, oder gar wie eine andere Nacht. Die Stimmung war eine neue, vollkommen unbekannte. Am Morgen gingen wir auf die Botschaft. Sie war geschlossen, aber reduziert besetzt. Man musste sich einschreiben in ein Buch, wohl damit das Außendepartement wusste, wer im Falle der Fälle in den Trümmern geblieben wäre. Wir stiegen die Treppen hinauf, und es war eine freudige Überraschung, schon aus dem Lautsprecher begrüßt zu werden, heimelig in Schweizer Französisch.

Der Botschafter war in der Schweiz, eine freundliche Mitarbeiterin hielt die Festung und überreichte mir die Post. Dank der Botschaft habe ich ja immer noch eine Adresse, das ist alles, was ich zurzeit noch habe. Nochmals Geschenk des Himmels. Ein zweites schönes Weihnachtsgeschenk, ein Buch das mir ein lieber Leser aus Deutschland geschickt hatte. Diesmal war es nicht 6 Jahre unterwegs, wie einst ein Brief. Das selbst geschriebene Buch eines andern Freundes ist ja trotz Einschreiben überhaupt nie angekommen. Aber ich will nicht alte Geschichten aufwärmen.

Es herrschte beißende, hier noch nie gespürte Kälte. Der 24. schwankte noch zwischen Geburt und Missgeburt. Geburt, weil sehr viele Glückwunschkarten hereinpixelten und weil Weihnacht an sich ein Geburtsthema ist. Missgeburt, weil ich mit derart Zeug und mit Versenden und Beantworten von solchen den ganzen Tag am Computer festgenagelt war und das nicht unbedingt weihnächtlich ist. Doch es ist doch schön, wenigstens an Weihnacht von all den Freunden zu hören.

Es gab leider ein paar Störflecke, wie jeden Tag: am Morgen war die Cholera auch in der engsten Nachbarschaft angekommen, sie ist jetzt überall. Ein 10 jähriges Mädchen aus dem Nachbarhaus wurde von ihr gepackt und rechtzeitig ins Spital gebracht. Es sei schon geheilt, schwätzt man. Das wäre immerhin ein schönes Weihnachtsgeschenk, ein Geschenk des Himmels. Aber leider ging es anders weiter, gleich 7 Personen sind dafür gestorben, auch aus der Nachbarschaft.

Und im Westend von Haiti, im westlichen Tiburon, habe es ein starkes Erdbeben gegeben, vielleicht so stark wie im Januar, hat der Vater von Melissa telefoniert. Offiziell hörte man noch nichts davon, die meisten Medien feiern ebenfalls und arbeiten nicht, und der Vater meint, es hätte keine Opfer gegeben, da er auf dem Land in den Bergen lebt. Dort gibt es nur kleine Häuser aus Holz mit Blätterdach, zum Glück, wie ich mich auch nach einem sehne. Und dort, wo man unter dem eigenen Sarg schläft, der über dem Bett bereits auf den offenen Dachpfetten liegt und auf seine Leiche wartet. Niemand mag mehr die verfluchten Steinhäuser. Wie es unten in den vereinzelten kleinen Städten aussieht, wage ich mir nicht vorzustellen.

Die Weihnachtsfeier wurde nicht ausgelassen. Die ganze Familie putzte und schrubbte die Stube, und man reinigte die Hände mit Alkohol. Als ich mich früh ins Schneckenhaus und zu meinen Gedanken zurückziehen wollte, bedeutete man mir zu bleiben, und machte mich auf Weihnacht aufmerksam. Ich war gespannt wie das hier wäre und blieb deshalb. Man deckte mich und sich selbst mit dicken Decken zu und schaute Thriller und was der Flimmerkasten so brachte. Das war keineswegs weihnächtlich. Auch draußen knatterte und knallte Feuerwerk wie bei uns am Nationalfeiertag. Ich hätte gedacht, heute werde gebetet und gesungen, aber mitnichten. Sowohl gebetet als auch gesungen wurde auch in diesem Haus sonst jeden Tag, oft stundenlang, das ist es, was mir auch so gefällt. Aber heute, da blieb es still, da betete nicht einmal der Flimmerkasten, und er sang und spielte keine weihnächtliche, sondern ganz unterhaltende Musik. Und Weihnachtsgeschenke wurden höchstens in den Werbespots verteilt. Weihnacht ist offensichtlich ein knalliges Fest hier, und man will laut und fröhlich sein, man will feiern. Die Menschen tun, was sie am nötigsten haben. Sie haben noch immer Lebensmut und Lebenslust, das können nur die Haiti-Menschen!

Um Mitternacht zog ich mich zurück, weil ich noch etwas von anderen Weihnächten spüren wollte. Und das war wieder faszinierend, wie jede neue Nacht, und Weihnacht wieder völlig anders. Ich habe nun wohl schon meine 20 erlebt in diesem Land, in Collines, in Gresye, in den Schwarzen Bergen, aber jede war wieder ganz anders, völlig neu. Wie ist nur eine solche Vielfalt möglich, was ist das für eine Welt. Unglaublich, dass Millionen in den Zelten wohnen sollen, in unmittelbarer Nähe, in größter Kälte. Man spürt nichts von ihnen. Jedermann ist im Freien, ein Fest wie wenn nichts wäre. Haiti lebt!

Niemand scheint im Bett zu liegen außer mir. Die ganze Nacht Betrieb wie an der Zürcher Street Parade. Das wogt und singt, betet und musiziert, in den Kirchen und in gewissen Gruppen, das brandet und wogt, und tatsächlich schreien in der Weih-Nacht riesige Sprechchöre sogar politische Parolen, sind so engagiert weil sie stecken bleiben mit ihren Forderungen, ihren Weihnachtswünschen. „Martelli pwesiden, Martelli pwesiden, Martelli pwesiden“! Das Volk schreit immer noch nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse, die angeblich zurückgehalten werden, „um die Weihnachtsstimmung nicht zu stören“.

Das bedeutet wohl, dass übermorgen die Straßenschlachten wieder los gehen? Vielleicht haben die Nationalen das Richtigste gemacht was sie konnten, im Augenblick und ganz kurzfristig. Hier können nur noch die helfen, die versagt haben: die UNO und die Internationalen . Mein Weihnachtswunsch ist, dass sie es endlich erfolgreich tun. Mit DIESEM Volk müssen auch Wunder gelingen, dieses Volk sprüht vor Lebenswillen und Energie!

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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  1. 1
    spanishjack

    Ja, Frohe Weihnachtsgrüsse nach Haiti.

  2. 2
    Chris

    „Hier können nur noch die helfen, die versagt haben: die UNO und die Internationalen . Mein Weihnachtswunsch ist, dass sie es endlich erfolgreich tun “ Fragt sich nur mit welchem Motiv ? International hat eventuell die Dominikanische Republik interesse daran das sich die Situation in Haiti verbessert , aber auch nur ihrem eigenem Tourismus und dessen Einnahmen zuliebe . ich sehe kaum jemanden dem das Schicksal dieser armen Leute überhaupt interessiert. Die grossen Konstruktionfirmen sitzen in den Startlóchern um ihr Jahrhundert-Gescháft zumachen .Genúgend Leute wurden schon bezahlt oder bestochen , Falsche Kampagnen angeleiert , der Papst quatsch von Beistand , logischer Weise nur seelisch , nicht materiell , wie immer ..

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