Live aus Haiti: Unvorstellbarer Freudentaumel auf den Straßen

Jubel

Datum: 05. April 2011
Uhrzeit: 09:42 Uhr
Leserecho: 4 Kommentare
Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Das Geschrei gestern Abend (4.4.) war unvorstellbar. Freudenschüsse in die Luft, es knallte und knatterte allenthalben, Kind und Kegel, Teens und Greisinnen, Burschen und Männer, sogar Bourgeois sind auszumachen – selbst Säuglinge und Hunde schreien mit – es herrscht eine Massenpsychose, wie ich sie noch bei keinem Fußball-Länderspiel erleben musste – heute allerdings durfte.

Man muss nicht fragen, was los ist, man muss den geschrienen Namen gar nicht verstehen, es ist so klar. Am 28. November war die spektakuläre Wahl, mit allem was folgte – heute ist der Abend des 4. April, das Ergebnis wird bekannt gegeben. Ein Land schreit so laut es kann, diesmal vor Freude. Millionen von Freudenschreien gellen minutenlang durch die Luft, aus jeder Kehle, von unten aus der Trümmerstadt und den tausend Lagern, aus den Ruinen und aus den neuen Hütten, wohl selbst aus den Choleraspitälern und Sterbelagern. Man hat das Gefühl von überall- selbst von oben. Und die Menschen sind alle ins Freie gestürzt, diesmal nicht wegen eines Erdbebens, diesmal aus Freude. Sie stehen und hüpfen, die Arme weit ausgestreckt, umarmen und umschlingen sich, schreien so laut es geht, zunächst nur sprachlose Schreie, dann immer mehr in ein verständliches Wort übergehend: Martelly.

Aus den Martelly-Schreien werden bald Rhythmen, Sprechchöre, in die sich schließlich Fragmente einer Melodie einfügen, Schreichöre, ja ein neues Jubellied entsteht. Im Kompa-Takt natürlich, mit dem Ranken der Leiber. Auch der Lärm, aus Kehlen und Lärminstrumenten beherrscht bald einmal die Klangwelt und ordnet sich zu Musik, die über die ganze Nacht klingt und dröhnt. Alles was Lärm macht, schallt mit. Schon bald einmal sind es die Autohupen, die sich mitfreuen, jede auf seine Art: in abgehackten Staccati bis zu endlosen Hornstößen ist alles zu hören, wohl bei manchem bis die Batterie aushaucht. Am nächsten Tag sind in den Autozubehörshops die Batterien wohl ausverkauft und die Preise steigen. Später folgen die ambulanten Hup- und Heulerzüge. Die Autokolonnen, die sich unter ununterbrochenem Gehupe durch die Strassen zwängen, die rasch anwachsen, denn jeder der ein noch ein hupendes Vehikel sein Eigen nennt, schließt sich da an – das setze ich voraus. Denn so kenne ich es von großen Hochzeiten da unten. Und an der Spitze so irgendeiner Horn- und Heulerkolonne steht mit Sicherheit Martelly mit Partisanen und schwenkt seine Arme.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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Kommentarbereich

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  1. 1
    Peter

    Danke Dir für den sehr anschaulichen Beitrag! Schön wäre jetzt noch für politisch so unbedarfte wie mich, wenn Du schreiben könntest, welche Erwartungen das Volk in die Wahl Martelly´s steckt, welche Hoffnungen sie haben, und warum sie den Minustah aus dem Amt jagen wollen. So ganz aus Deiner Sicht, und wie Du das vor Ort erlebst. Denn das, was die internationalen Zeitungen wiedergeben, muss sich ja nicht mit der gelebten Wirklichkeit vor Ort decken.

    Alles Gute für Dich!
    Peter

  2. Lieber Peter,

    und ob! „Das Volk“ ist natürlich nicht so einfach, es ist so vielfältig wie anderswo. Wir beide generalisieren unsere Meinung oder Sicht von der grossen Masse, der sozialen „Unter“masse.

    Die erwartet Essen, Gesundheit, bezahlte Arbeit, Bildung und eine Zukunft für die Kinder – zB unentgeltliche Schulen – Friede und Sicherheit. Dinge, die in Haïti leider nur in Diktaturen funktionierten. Die Menschen erwarten jetzt dass es auch mit dem neuen Präsidenten hinhaut, mit oder ohne Demokratie. Sie möchten leben wie die Menschen andernorts. Und sie möchten SICH leben können. Sie fordern Menschenrechte ein. Das Volk erwartet, dass es Micky besser macht als seine Vorgänger, und die Krawattenmenschen, die hier ein paar Monate teure Ferien gemacht haben. Sie glauben seinen Versprechen von dem allem, zum Beispiel dass er mit Diebstahl und Korruption aufräumt.

    Und die MINUSTAH – ja die sind, wie die Hilfswerke und die Medien mit ihren Journalisten, guten Willens, aber sie haben Vorstellungen aus einer anderen Kultur, sind nicht lang genug da (die Journalisten oft nur ein paar Tage in einem Ghetto-Hotel, die Helfer ein paar Monate, die Soldaten im besten Fall ein paar Jahre) – und kennen nur Geld und Gewalt, um ihre – vielfach falschen – Vorstellungen durchzusetzen. Sie sind nicht einmal imstande, zu sprechen mit dem Volk, viele können nicht einmal Französisch. Das Volk ohnehin nicht. Also sprechen die flüchtigen Gäste Englisch, das Volk Kréol aneinander vorbei.

    Eine Sache der Kultur ist natürlich der Glauben – wir sagen Aberglauben. Manchmal stimmt es vielleicht sogar, nach Berichten der Franzosen, dass die MINUSTAH das Böse, die Cholera gebracht hat. Die AMIS sagen das sei gelogen, die Venezolaner ohnehin – die lügen, auch wieder aneinander vorbei. Ich muss aufhören, sonst gibt es wieder ein neues Buch …

    Bezüglich dem Kahlkopf war ich auch lange skeptisch. Aber ich habe mich dem kleineren von zwei Übeln gefügt. Und jetzt kann man ihm nur noch überzeugt viel Glück wünschen. Wenn er das fertig bringt, was all die Besserwisser nicht geschafft haben, dann hat das Weltgesicht seine nächste Schlappe eingefahren.

    Danke noch für Deine Wünsche, und alles Gute!

    Otti

  3. Hallo lieber Otto,
    habe soeben zu Raymonde gesagt: vamos a Haiti. Und sie: Si, quando? pero rapido. Am liebsten wären wir jetzt am Champs de Mars, mittendrin in dem Freudentaumel.
    Du hast einen wunderschönen Bericht geschrieben. Danke.
    Liebe Grüsse von HaJo

    • Danke auch HaJo,

      ich bin auf solche Rückmeldungen und Aufsteller sehr angewiesen, ja lebe sogar davon! Und wenn Ihr es wirklich mal zum Champs de Mars bringen solltet, lasst es mich vorher wissen.

      Jubelgrüsse von über den Trümmern

      Otti

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