Kuba: In jedem Kommunist steckt ein Kapitalist► Seite 3

Datum: 28. August 2011
Uhrzeit: 00:23 Uhr
Leserecho: 2 Kommentare
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Wenn man allerdings gelernt hat, stets sich selbst und den Menschen für den man sich interessiert mit Respekt zu behandeln, dann läuft das wesentlich erfreulicher ab, als oben beschrieben. Der Unterschied zur Prostitution in kapitalistischen Ländern ist, dass es keine Preisabsprachen gibt, und auch nicht in Stein gemeißelt ist, dass Geld den Besitzer wechseln muss. Viele junge Kubaner genießen Atemzug für Atemzug den Hauch von Luxus, den sie durch einen Touristen miterleben: Reisen in klimatisierten Bussen, Abendessen in Restaurants, neue T-Shirts, Schuhe, Modeartikel … all das zusammen beruht zwar auf dem Prinzip: Ich habe etwas, das Du willst und umgekehrt, haben wir einen Deal?, lässt sich aber nicht einfach auf Prostitution reduzieren. Vielmehr geht es auch, bitte nicht lachen, um interkulturellen Austausch: Man nimmt etwas von der Welt mit, die man gerade gestreift hat, und von der man sich angenehm berührt fühlt. Natürlich gibt es abgebrühte Mädchen und Jungs auf Kuba, die haargenau wissen, wie man Touristen abzockt, sie gefügig macht, ihre Geilheit und Großmannssucht nutzt, die Regel ist dies allerdings nicht.

Die jungen Kubaner sind von einer unvorstellbaren Sehnsucht nach Weite, nach allem von ‚außerhalb‘ süchtig, nach Kultur, Lebensstil, Nachrichten, Luxus und nach der uns ganz eigenen, am Besitz orientierten Lebensfreude. Nein, wir dürfen nicht die Nase rümpfen und uns moralisch überlegen fühlen, weil die Werte, die uns dazu bringen könnten, die Nase zu rümpfen, in den seltensten Fällen unsere eigenen ist, sondern viel öfter, als wir es uns eingestehen möchten, eine kolportierte, redaktionell aufbereitete Moral ist, die nicht mehr von Kirchen und Staatsmännern, von Humanität und Vernunft gesteuert wird, sondern von der unseligen ‚Das hast du noch nicht gesehen‘ Empörungsmaschinerie der Massenmedien.

Wir lassen es zu, dass Fernsehformate uns Anleitungen zum glücklichen Leben präsentieren und uns ‚Moral‘ erklären, wir lassen zu, dass man versucht, in diesen Formaten das Leben zu erklären. Wir sind als Volk auch ein Publikum, das sich in diversen ‚Betretungssendungen‘ am Ungemach anderer erfreut (Die Ordnungsamtsleute auf Tour, die Nanny bei Familien mit schwierigen Kindern, der Schuldnerberater bei Leuten, die vor der Kamera Rotz und Wasser heulen, weil ihr Leben so verpfuscht ist …); macht uns das nicht alle zu Menschen, die im Schutz der Menge heimlich nach Tauben treten? Welche moralische Gerüste stützen uns und unseren schwerfällig urteilenden Blick auf Kuba? Gar keines: Selbstgefällig urteilende Blicke und Arroganz gedeihen dort, wo Moral, Sittlichkeit und Anstand längst zu beliebig verwendbaren Begriffshülsen verkommen sind.

Der ‚grüne‘ Kommunismus auf Kuba konnte nicht funktionieren, so, wie es kein politisches Denkmodell schaffen kann, dem Mensch Glück, Frieden und Gerechtigkeit überzustülpen, weil die Basis all dieser herbeigeträumten Gerechtigkeit eine Ungerechtigkeit wäre. Was würden denn unsere Kaffeehauslinken auf Kuba mit den Jungs und Mädchen machen, die sich an Touristen heranmachen, vielleicht sogar in der Hoffnung, mit ihnen irgendwie das Land verlassen zu können? El Torro wieder aufsperren und sie bestrafen, weil sie nicht so funktionieren, wie in den Denkmodellen zurechtgelegt? Anders gefragt: Wen würden die Rechten verachten, wenn das diktatorische Prinzip schlussendlich auch die kubanische Bevölkerung hätte erstarren lassen, und alle dort grau und zitternd vor Kälte ihr armseliges Dasein fristeten?

Was wären wir selbst, wenn wir in unserer Verachtung für die sexuelle Freizügigkeit der Kubaner erkennen würden, dass wir allesamt Männer und Frauen sind, die im Schutz der Menge heimlich nach Tauben treten.

Jose Lezama Lima schrieb einmal: Ein Vogel und ein zweiter zittern nicht mehr. Die Kubaner wissen das.
Wer sind wir, dieses Wissen zu verachten?

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Peter Nathschläger, geb. 1965 in Wien, entdeckte früh seine Vorliebe für Reisen & Literatur. Parallel zu seinen Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten widmet er sich nun verstärkt Reiseberichten mit Schwerpunkt Kuba, ganz im Sinne einer literarischen Spurensuche.

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  1. 1
    Gustavo

    Als ich 1972 als Student von Kuba in die ehemalige DDR kam, lernt ich folgende Definition: „Der Kapitalismus ist die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen!“
    Und wenn jemand von seiner Hände Arbeit (ohne ausgebeutete Angestellte) nur so reich werden kann wie er alleine schafft, dann ist das kein Kapitalismus, sondern Gerechtigkeit.

  2. 2
    Nicki

    Sehr interessanter Artikel. Sex ist bei uns in den Medien allgegenwärtig aber sexuelle Freizügigkeit ohne dabei Andere zu bedrängen und auszubeuten schaut anders aus.

    Die lockere Freundlichkeit,auch Gastfreundlichkeit in Kuba beinhaltet einen solchen Respekt der in unserer einzelgängerischen Gesellschaft mit einer Überbetonung der Individualität schlicht abhanden gekommmen ist.

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