Was lateinamerikanische Frauenbewegungen von Europa lernen können

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Lateinamerikas Frauen und Queere begehren gegen die Strukturen auf. Dabei können sie auch von Europa lernen – im Guten wie Schlechten. (Foto: unplash.com / Lindsey LaMont)
Datum: 07. Februar 2020
Uhrzeit: 14:57 Uhr
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Autor: Redaktion
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Lateinamerika hat nach wie vor ein großes Problem mit patriarchalischen Strukturen. Doch nicht erst seit gestern begehren Frauen und Queere in allen Ländern Süd- und Mittelamerikas dagegen auf. Doch auch, wenn sich vieles hier nicht mit der Situation in Europa vergleichen lässt, lohnt sich dennoch ein Blick über den Atlantik. Denn dort gibt es sowohl Nachahmenswertes abzuschauen wie begangene Fehler, die man vermeiden kann.

1. Patriarchat verschwindet von Kindesbeinen an

Warum bringt jede neue Generation von Männern Mitglieder hervor, die die gleichen Fehler begehen wie ihre Väter und Großväter? Warum bringt jede neue Generation von Frauen Mitglieder hervor, die das hinnehmen? Und warum glauben angesehene Studien, dass die Welt erst in 100 Jahren gleichberechtigt sein wird? Weil immer wieder zugelassen wird, dass Jung-Menschen in den prägenden Lebensphasen Gleichberechtigung nicht hinreichend eingeimpft wird. Auch in Lateinamerika dürfen sich vor allem Jungs über ihre ersten Lebensjahre zu oft zu kleinen Machos heranbilden – mit entsprechenden Folgen für ihr gesamtes Leben.

Zum ersten Mal in diesem Artikel ist Island ein leuchtendes Vorbild. Die raue Insel im Nordatlantik hält seit Jahren den globalen Spitzenrang für Gleichberechtigung inne. Einer der wichtigsten Gründe dafür ist die unermüdliche Grundlagenarbeit, die dort geleistet wird: Schon im Kindergarten gehört es dort fest zum Lehrplan, Gleichberechtigung zu leben und zu erziehen. Und bis zum Universitätsabschluss und darüber hinaus gibt es keine Phase mehr, in der die Heranwachsenden ohne eine derartige Anleitung durchs Leben gehen.

Eines der wichtigsten Ziele, die lateinamerikanische Frauenbewegungen anpeilen können, ist es, ebenfalls eine derartige Erziehung in den Schulen zum Pflichtprogramm zu machen. Nur auf diese Weise werden Errungenschaften gefestigt, wird verhindert, mit jeder Generation „das Rad neu erfinden“ zu müssen.

2. Sexpositivität ist richtig und wichtig

Die zweite Welle der europäischen Frauenbewegung, die in den 1960ern aufkam, vertrat vielfach eine eher negative Einstellung gegenüber Sexualität. Aktionen wie die deutsche „PorNO-Kampagne“ waren etwa der Ansicht, dass jede Form von Pornografie eine Ausbeutung von bzw. Gewalt gegenüber Frauen darstellen würde. Einige Mitglieder waren zudem jeglichen Formen von Sexualität gegenüber skeptisch eingestellt.

Das wiederum ist ein Fehler, den lateinamerikanische Frauen nicht wiederholen sollten. Denn Sexualität ist so natürlich wie das Atmen; Lust zu unterdrücken, richtet sich meist nur gegen den Unterdrückenden selbst. Es kommt auf das Wie an. Und das kann absolut feministisch sein.

Es sind nicht zuletzt die beliebtesten Sexspielzeuge der Frauen, die in jüngster Vergangenheit dem Feminismus einen großen Dienst erwiesen haben – schon weil sie es jeder Frau ermöglichen, ihre Lust, ihre Bedürfnisse allein und in der Sicherheit ihres Heimes auszuloten, zu entdecken und zu befriedigen. Jeder Orgasmus, den Frau sich selbst verschaffen kann, wird somit zu einem direkten Akt des Widerstandes gegen diejenigen Männer, die sich nach wie vor als einziger Lieferant von sexueller Erfüllung wähnen.

Und selbst die vielgescholtene Pornografie zeigt in den jüngsten Jahren, dass sie funktionieren kann, ohne Frauen zu verletzen und auszubeuten. Denn es gibt eine immer größer werdende Schar feministischer Porno-Regisseurinnen. Und deren Werke sind unglaublich wichtig. Denn es ist eine Tatsache, dass das Internet zu einem Großteil aus Pornografie besteht – und Menschen aller Geschlechter konsumieren sie, auch das lässt sich nicht realistisch abschaffen.

Doch es ist auch erwiesen, dass gerade junge männliche Pornokonsumenten nur das reflektieren, was sie in solchen Clips sehen. Der Rest ist Logik: Je mehr die Pornoseiten mit feministischen Pornos gefüllt sind, desto geringer wird der Anteil patriarchalischer harter Pornografie, desto größer wird der Anteil derjenigen Männer, die durch gleichberechtigte Pornos erleben, dass die „optische Erotik“ bestens funktionieren kann, ohne auszubeuten und Frauen wie Objekte zu behandeln.

3. Feminismus muss globalisiert kämpfen

Kulturen können sich je nach Ländern und sogar kleinen Regionen teils erheblich unterscheiden. Patriarchalische Strukturen sind jedoch buchstäblich grenzenlos und zeigen immer wieder und auf der ganzen Welt die gleichen Eckpunkte. Man könnte also durchaus von einem globalen Patriarchat sprechen – auch wenn es natürlich keine global organisierte Struktur ist. Und auch bei uns sind die Femizide ein grenzübergreifendes Problem.

Aber: in Lateinamerika sieht man noch zu oft, dass der Kampf für Gleichberechtigung nur auf nationaler Ebene geführt wird. Ein argentinischer Kampf, ein brasilianischer Kampf, ein mexikanischer Kampf. Und auch wenn mittlerweile der 8. März als grenzübergreifender Widerstandstag etabliert ist, zeigt er doch auch, was noch verbesserungswürdig ist.

Denn das Patriarchat ist international, seine Methoden sind international. Es kann also nicht funktionieren, ohne dass auch der Kampf dagegen grenzüberschreitend ist. Europas Frauenbewegungen haben sich schon frühzeitig zusammengeschlossen – trotz der unzähligen Sprachgrenzen dieses Kontinents – und sie haben auch deshalb viel erreicht. Lateinamerika hat allein schon auf dieser Ebene (trotz restriktiverer Grenzpolitik) die besseren Karten, weil die Sprachgrenzen viel geringer sind.

Das Ziel muss deshalb lauten, dass der 8. März nur ein Ausgangspunkt sein darf. Auch die restlichen 364 Tage müssen sich alle lateinamerikanischen Gleichberechtigungsbewegungen solidarisieren.

4. Steter Tropfen höhlt den Stein

Warum sind die Gesetze über Schwangerschaftsabbrüche in Europa so viel besser als in den meisten Regionen Lateinamerikas? Weil die dortigen Frauen über viele Jahrzehnte hinweg am Ball blieben und sich niemals mit Teilerfolgen zufrieden gaben.

Warum hat Argentiniens neuer Präsident, Alberto Fernández, noch bevor er sein Amt angetreten hatte, verkündet, das Problem der legalen Abbrüche anzugehen? Vor allem weil Argentiniens Feministinnen seit Jahren dafür kämpfen, ein echtes Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper zu bekommen.

Eine der wichtigsten Botschaften, die sich lateinamerikanische Gleichberechtigungsbewegungen angesichts dieser zwei Tatsachen auf die Fahnen schreiben können, ist folgende: Niemals aufgeben, auch wenn eine Niederlage hart oder ein Teilerfolg glorreich wirkt. Beides ist immer nur temporär. Erst echte, vollständige Gleichberechtigung darf ein wirklicher Grund zum Feiern sein – und selbst dann ist ständige Wachsamkeit vonnöten.

5. Nur die Politik kann grundlegend verbessern

Außerparlamentarische, basisdemokratische Opposition ist unglaublich wichtig. Sie ist die bedeutsamste Möglichkeit, um beliebige Zahlen von Menschen zusammenzubringen und gegen bestehende Missstände aufzubegehren. Aber: Abermals steht Island nur deshalb an seiner Position, weil es umfangreiche Gesetze zur Gleichstellung in seinem System verankert hat. Das wiederum gelang nur, weil Menschen an die Macht gelangten, die Gleichberechtigung nicht nur als Floskel sahen, sondern willens waren, sie zum Gesetz zu machen.

Genau das muss auch das Ziel aller lateinamerikanischen Gleichberechtigungsbewegungen sein: In die Politik zu kommen. Mexiko-Stadts Bürgermeisterin, Claudia Sheinbaum, zeigt, dass es durchaus geht, auch gegen die teils enormen patriarchalischen Seilschaften in der Politik.

Es ist simpel: Nur wenn an den Schaltstellen der Macht Menschen sitzen, die Gleichberechtigung leben, vielleicht lebenslang dafür gekämpft haben, kann sich etwas ändern – der so oft eingeschlagene Weg, andere damit zu beauftragen, nur weil die sich als Kämpfer für Gleichberechtigung geben, hat sich leider zu oft als Irrweg erwiesen.

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