Doch der Fahrer wurde vom wachhabenden Arzt in eine Apotheke geschickt, um neue Medikamente zu holen. Kaum war er wenige Häuserblocks abgefahren, wurde Nerudas Citroën von zwei Zivilfahrzeugen gerammt, Araya unter Fusstritten und Kolbenschlägen aus dem Wagen gezerrt und, auf dem Boden liegend, ins linke Bein geschossen. Blutend wurde er zum Massen-KZ improvisierten Estadio Nacional in Santiago verschleppt. Am nächsten Tag, den 24. September, erzählte ihm ein Kirchenmann, Neruda sei tot. Araya wurde indes mehrere Monate lang weiter misshandelt.
Als er 1974 seine Freiheit erlangte, stürzte er sich in die Untersuchung der Umstände vom Tod seines Arbeitgebers. Die Verdachtsindizien verdichteten sich: Nerudas Behandlungsakte war in der Klinik verschwunden, der nach der Spritze angetroffene Arzt, Dr. Sergio Draper, hatte die Spritze aber nicht selbst verabreicht. Ebenfalls war die Anwesenheitsliste des am 23.September 1973 in der Klinik tätigen Personals nicht mehr aufzufinden, der Name des eingespritzten Medikaments blieb ein Rätsel und einen gewissen „Dr.Price“, der Neruda die Injektion verabreicht haben soll, gab es weder in der Klinik noch im gesamten Chile. „Dr.Price“ war das Neruda-Phantom.
Den Höhepunkt der Ungereimtheiten bildete der Sterbeschein der Klinik: Neruda habe nur noch 40 Kg gewogen, hiess es in der Urkunde. „Völliger Irrsinn!“, entgegnet Araya: „Neruda wog in jenen Tagen 123 Kg, so habe ich ihn in Erinnerung – wie sollte er in wenigen Stunden 80 Kg ´abgenommen´ haben!“. Dann meldete sich der damalige Botschafter Gonzalo Martínez Corbalá zu Wort und attestierte Pablo Neruda während seines Besuchs in der Klinik exzellente Laune und gute körperliche Verfassung, von einer akuten Entwicklung des Prostata-Krebses könne keine Rede sein.
Doch Chile wurde hellhörig, als im Januar 1982 in der gleichen Klinik und in den Händen des gleichen Arztes der christdemokratische, von der Konrad Adenauer-Stiftung gestützte, Ex-Staatspräsident Eduardo Frei Montalva auf unerklärliche Weise verstarb.
Matilde Urrutía aber schlug Arayas Attentats-These in den Wind und kündigte sein Arbeitsverhältnis. „Sie schenkte mir Nerudas Citroën und sagte, ´auf dass Sie nie wieder behaupten, Pablo sei ermordet worden! Vielleicht fürchtete sie um ihr Leben“. Matilde Urrutía verstarb 1985 im unfesten Glauben, Neruda sei an den Folgen des bereits in Paris diagnostizierten, doch kontrollierten Prostata-Krebses gestorben. Es war unfester Glaube, auch sie war inzwischen skeptisch geworden. Achtmal habe er dann die KP auf seine Vermutungen angesprochen, seufzt Araya, doch selbst dort wollte ihm keiner so recht folgen. Für Araya verstrichen die Jahre in einsamer Pein.
Doch der Fischer Cosme Caraciollo hatte einen plötzlichen Einfall: Er brachte seinen Nachbar Araya mit dem Journalisten Francisco Marín, Korrespondent der mexikanischen Wochenzeitung „Proceso“, zusammen und Marín schrieb jenen Artikel vom 31.Mai 2011 – „Mataron a Neruda?“ – der mit dem Buch „El doble asesinato de Neruda“ (Ocholibros, 2012) den Stein ins Rollen brachte. Nun wurde auch der Santiagoer Anwalt Eduardo Contreras hellhörig und erstattete bereits nach seinem ersten Gespräch mit Araya Anzeige wegen Mordverdacht. Dem schlossen sich auch Nerudas Verwandte aus der väterlichen Reyes-Linie an und forderten von Richter Mario Carroza, der bereits die Umstände Salvador Allendes´ Tod aufzuklären versuchte, die Exhumierung des Dichters.
Neruda war im September 1973 sofort auf dem Zentralfriedhof in Santiago beigesetzt worden – ohne jegliche Autopsie. Siebzehn Jahre später wurden seine angeblichen, sterblichen Reste von Santiago nach Isla Negra umgebettet. Die These Arayas – der sich Marín, Contreras und Rodolfo Reyes, Anwalt und Neffe Nerudas, anschlossen – besagt, die Militärs um Pinochet hatten es sich anders überlegt als sie begriffen, daß Neruda eine Exil-Regierung mit weltweiter Unterstützung ausrufen würde, die das rasche Ende der blutigen Diktatur besiegelt hätte. „In vier Monaten ist Pinochet von der Macht weggefegt!“ – dieses Szenario habe ihm Neruda selbst noch auf dem Krankenbett zugeflüstert, behauptet Araya.
Der Kampf Manuel Arayas hatte es an sich, er ist der Wahrheit einen gewaltigen Schritt näher gekommen. Dass es jedoch nach all diesen Jahren und Umbettungen technisch möglich sein dürfte festzustellen, ob Chiles grossem Dichter Medizin oder Todesmittel – und sei es die Überdosis eines Schmerzlindernden Mittels – injiziert wurde, scheint kaum noch eine realistische Hoffnung zu sein.
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