Wie verzweifelt muss eine junge Mutter sein, wenn sie ihren nur wenige Stunden alten Säugling vor den Toren eines Kinderdorfs ablegt. Der kleine Alfonso (Name geändert) wurde beim nächtlichen Rundgang vom Hausmeister gefunden und sofort der Ärztin übergeben. Nachforschungen nach seiner Familie blieben erfolglos. Seither ist das Babyhaus St. Anne das Zuhause des kleinen Jungen – eine Einrichtung des Kinderdorfs der Hilfsorganisation nuestros pequeños hermanos (nph). Dort entwickelt er sich prächtig. Alfonsos Schicksal ist kein Einzelfall, denn Haiti ist das ärmste Land der westlichen Welt. Das verheerende Erdbeben vom Januar 2010 hat die Lage für große Teile der Bevölkerung weiter verschlechtert. Obwohl Präsident Michel Martelly während seiner Amtszeit einige Verbesserungen bewirken konnte, sehnen sich die Menschen nach politischer Stabilität und wirtschaftlichem Aufschwung. Ob die Stichwahl am 24. Januar 2016 einen neuen Präsidenten hervorbringt, der die Hoffnungen der Haitianer erfüllen kann, bleibt abzuwarten.
„Dass Kinder wie der kleine Alfonso ausgesetzt werden, um ihr Überleben zu sichern, ist der großen Armut in Haiti geschuldet. Rund 80 Prozent der Bevölkerung gelten als arm. Die Hälfte der Haitianer ist arbeitslos oder im informellen Sektor tätig. Jeder Tag ist ein Überlebenskampf und Hunderttausende Kinder sind mangel- und unterernährt“, sagt Cassagnol Destiné, Projektkoordinator für Haiti bei nph deutschland. Seit Jahrzehnten regieren in Haiti Korruption und Misswirtschaft. Nach einer Serie von Militärputschen und Diktaturen stabilisierte sich die politische Situation in Haiti erst in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. 2011 kam Michel Martelly als gewählter Präsident ins Amt. Er versprach vor allem Wirtschaftswachstum und eine Stärkung des Tourismus. Trotz einiger Erfolge wie beispielsweise dem Wiederaufbau von Regierungsgebäuden nach dem Erdbeben, einer Verbesserung der Infrastruktur und im Bildungsbereich, hat sich Haiti nach wie vor nicht von den Folgen des Erdbebens erholt. Die Verbesserungen haben die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung nicht zum Guten verändert, was zu einer Unzufriedenheit mit der Politik führt, die sich in zahlreichen und oft gewalttätigen Demonstrationen äußert.
Die letzten davon fanden aus Unmut über den Wahlbetrug und die Verschiebung der Stichwahl zur Präsidentschaft statt, die eigentlich am 27. Dezember 2015 hätte stattfinden sollen. Weil die Opposition, Menschenrechtsgruppen und Wahlbeobachter der Regierung Manipulation und Bestechung vorwarfen, wurde eine Prüfkommission eingesetzt. Diese bestätigte die Unregelmäßigkeiten. Laut dem von der Wahlkommission der Regierung veröffentlichten offiziellen Ergebnis hatte bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl im Oktober 2015 der vom bisherigen Amtsinhaber Martelly unterstützte Kandidat Jovenel Moise die Mehrheit der Stimmen bekommen. Der Zweitplatzierte war Jude Célestin. Während Moise keinerlei politische Erfahrung hat, ist Célestin als ehemaliger Leiter der haitianischen Baubehörde kein politischer Neuling. Trotz des Vorwurfs der massiven Unregelmäßigkeiten soll die Wahl nicht annulliert werden. Geplant ist vielmehr, die Stichwahl am 24. Januar abzuhalten.
„Für die Mehrheit der Bevölkerung dürfte der Wahlausgang keine große Rolle spielen: Denn auch sechs Jahre nach dem Erdbeben leben in der Hauptstadtregion noch rund 100.000 Menschen in provisorischen Zeltstädten. Die Cholera fordert auch weiterhin viele Todesopfer. Und an der Grenze zur Dominikanischen Republik entstehen neue Zeltlager. Denn die dominikanische Regierung weist Haitianer aus, die keine Papiere vorweisen können. In vielen Fällen sind das Menschen mit haitianischem Ursprung, die in der Dominikanischen Republik geboren sind. Sie haben zu Haiti überhaupt keinen Bezug und sprechen noch nicht einmal Kreol“, schildert Cassagnol Destiné die aktuelle Lage. „Wie in den Jahren zuvor ist die Bevölkerung auch weiterhin mit dem Überleben beschäftigt. Diese Situation wird sich auch unter einem neuen Präsidenten nicht zügig verändern.“
Das christliche Kinderhilfswerk nuestros pequeños hermanos (nph) ist seit rund 30 Jahren in Haiti tätig. In dieser Zeit haben die Verantwortlichen zahlreiche Einrichtungen und Programme aufgebaut, die die Not der Menschen lindern und auf Nachhaltigkeit abzielen. Ein Grundpfeiler für Nachhaltigkeit liegt im Bildungssektor. nph betreibt in Haiti eigene Schulen und bietet jungen Haitianern Ausbildungslehrgänge in Berufen an, die im Land benötigt werden. „Unser neuester Ausbildungszweig an der Berufsschule ist der des Solartechnikers. Die ersten Ausbildungsjahrgänge haben inzwischen abgeschlossen und mit START (Standard and Renewable Technologies) ihre eigene Firma gegründet, die bereits zahlreiche Aufträge hat. Die Absolventen haben dadurch gute Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt“, erzählt Cassagnol Destiné. Auch nph haiti ist ein Auftraggeber für START, denn die Organisation hat in Tabarre ein nachhaltiges Energiesystem, ein „Solar Smart Grid“, aufgebaut, das die Einrichtungen des Hilfswerks mit Strom versorgt. Über landwirtschaftliche Aktivitäten wie die Hühner- und Fischzucht erhöht nph haiti den Grad der Selbstversorgung und generiert im Rahmen eines ‚Social Business‘ Einnahmen, die reinvestiert werden.
Neben den Bildungseinrichtungen bietet nph haiti auch medizinische und therapeutische Hilfe an. Das Kinderkrankenhaus des Hilfswerks zählt zu den modernsten in Haiti und beherbergt die einzige Kinderonkologie des Landes. Seit dem Ausbruch der Cholera Ende 2010 sind die nph-Cholerakliniken sehr wichtig, insbesondere nachdem viele Organisationen, die nach dem Erdbeben in Haiti Hilfe geleistet haben, das Land wieder verlassen und ihre medizinischen Einrichtungen geschlossen haben. Rund 230.000 Haitianer nehmen pro Jahr die Hilfsangebote von nph und der Schwesterorganisation St. Luc in Anspruch. Wer den Menschen in Haiti helfen möchte, kann das bei der Bank für Sozialwirtschaft Karlsruhe, IBAN DE06 6602 0500 0000 0120 00, Stichwort Haiti.
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