Lateinamerika: Friedensvertrag in Kolumbien – und dann?

kolumbien

Ehemalige Täter und Opfer bauen so gemeinsam an der Zukunft ihrer Dorfgemeinschaft und können so auch die Vergangenheit hinter sich lassen (Fotos: seehausev)
Datum: 23. September 2016
Uhrzeit: 21:08 Uhr
Leserecho: 1 Kommentar
Autor: Redaktion
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Der Friedensvertrag zwischen den FARC-Guerillas und der kolumbianischen Regierung wird am 26.09. in Cartagena unterschrieben. Am 02.10. findet eine Volksabstimmung ab. In Umfragen zeichnet sich eine große Mehrheit für den Friedensvertrag ab. Nach über 50 Jahren Krieg im Nachbarland von Venezuela ist dies ein wichtiger Meilenstein für Kolumbien. Doch die Unterschrift unter den Friedensvertrag ist nur der Anfang eines langen und schwierigen Prozesses. Die meisten der Guerilla-Kämpfer haben nie etwas anderes gelernt, als den Umgang mit Waffen und die Anwendung von Gewalt. Diejenigen, die keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, sollen in bestimmten Gebieten angesiedelt werden, die sie nicht verlassen dürfen. Sie sollen gemeinnützige Arbeit ableisten. Wie dies durchgeführt wird ist noch offen.

Die Hoffnungsträger Stiftung unterstützt Prison Fellowship Kolumbien, eine Partnerorganisation von Seehaus e.V. (Leonberg), dabei, hier Modelle für die Integration und Wiedergutmachung zu entwickeln. Tobias Merckle, Vorstand bei Seehaus und Stiftungsratsvorsitzender bei der Hoffnungsträger Stiftung war bei der Abschlussfeier des Programms „Dörfer der Versöhnung“ in Ciudad Boliviar und bei der Eröffnungsveranstaltung des APAC-Programms im Bellavista Gefängnis in Medellin dabei.

Dörfer der Versöhnung

Die Idee für das Programm „Dörfer der Versöhnung“ entstand als Lacides Hernandez, Präsident von Prison Fellowship Kolumbien und Francisco Galan, ehemaliger Chef der ELN-Guerillas zu Besuch in Deutschland waren. Merckle berichtete aus den Erfahrungen mit solchen Projekten in Ruanda. Nach der Entlassung Tausender Täter des Völkermordes aus den Gefängnissen kamen diese in ihrer Dörfer zurück und wohnten Tür an Tür mit den Hinterbliebenen, die teilweise ihre gesamte Familie verloren haben. Prison Fellowship Ruanda entwickelte das Modell Dörfer der Versöhnung. Dabei bauen Täter und Opfer zunächst Häuser für die Opfer. Nachdem alle Häuser für die Opfer fertig gestellt sind, helfen die Opfer beim Bau der Häuser für die Täter. In Kolumbien wurden bisher drei dieser Projekte durchgeführt, in San Ysidro, San Francisco und Ciudad Boliviar. Ehemalige Guerilla-Kämpfer und Paramilitärs nehmen dabei an Gesprächsrunden mit Opfern des Konflikts teil.

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Gemeinsam arbeiten sie dann daran, zerstörte Infrastruktur wiederherzustellen. So wurden bisher Schulen, Sportplätze, eine Betriebshalle, in denen Frauen eine kleine Nähmaschinenfabrik als Genossenschaftsmodell eingerichtet haben und eine Kirche, die auch der einzige Versammlungsort für die ganze Gegend ist wiederhergestellt. In der Ciudad Boliviar konnte Merckle bei der Grundsteinlegung für ein Begegnungszentrum dabei sein, bei der Eröffnung einer kleinen Brücke, die den Kindern einen sicheren Schulweg erlaubt und der Einweihungsfeier einer renovierten Schule und Sportplatzes. Ehemalige Täter und Opfer bauen so gemeinsam an der Zukunft ihrer Dorfgemeinschaft und können so auch die Vergangenheit hinter sich lassen. Durch das Eingestehen der Schuld, das Kennenlernen der Lebensgeschichten, die praktische Wiedergutmachung kann Versöhnung gelebt werden. Nur so ist ein zukünftiges Zusammenleben ohne Hass und Vergeltung möglich. „Es ist faszinierend zu erleben, wie hier wirkliche Versöhnung geschieht und Opfer und Täter Hand in Hand für ihre gemeinsame Zukunft arbeiten“, so Merckle. „Dies könnte zu einem Modell für ganz Kolumbien werden, so dass die gemeinnützige Arbeit, die die FARC Guerillas sowieso leisten müssen, gut umgesetzt und wirklich der Versöhnung dienen kann“.

Resozialisierungsprogramm im Gefängnis

Das Bellavista Gefängnis in Medellin ist hoffnungsvoll überbelegt. Es wurde für 1600 Gefangene gebaut, 6.600 sind dort durchschnittlich untergebracht. Früher war es eines der gefährlichsten Gefängnisse Kolumbiens mit 40-60 Toten im Monat. Dies hat sich in den letzten 15 Jahren – auch dank der Arbeit von Prison Fellowship Kolumbien – radikal geändert. Dort konnte nun ein „APAC- Programm“ in einem Hafthaus mit 440 Gefangenen eröffnet werden. Die APAC Methode stammt ursprünglich aus Brasilien und ist auch für das Seehaus Leonberg Vorbild. Durch weitgehendste Selbstverwaltung übernehmen dort Gefangene Verantwortung und tragen zu einer völlig anderen Gefängniskultur bei. Eine positive Gruppenkultur, in der sich die Gefangenen gegenseitig helfen, ist die Grundlage für das Konzept. Die Teilnehmer werden durch eine berufliche Ausbildung, Wertschätzung, ein abgestuftes System mit wachsender Verantwortung und wachsender Freiheit, die Einbeziehung der Gesellschaft und die graduelle Integration in die Gesellschaft auf ein Leben ohne Straftaten vorbereitet. Inzwischen gibt es in Brasilien 48 Gefängnisse, die ganz ohne Vollzugsbeamten auskommen und von den Insassen mit Prison Fellowship zusammen verwaltet werden, in ca. 150 Gefängnissen gibt es Abteilungen im Gefängnis, die auf Grundlage dieser Methode arbeiten.
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Im Oktober letzten Jahres sind Merckle und Hernandez auf die Bosse der verschiedenen Gruppierungen zugegangen und ihnen das APAC Programm vorgestellt. Sowohl die Führer der Guerillas, der Paramilitärs und der Abteilungen mit „gewöhnlichen Kriminellen“ haben zugestimmt. Auch der Gefängnisdirektor hat die Idee unterstützt. Nach einem Jahr Vorbereitungszeit konnte nun die Eröffnung gefeiert werden. Die Gefangenen haben dazu von jeglicher Gewalt abgeschworen und sich verpflichtet, sich in Zukunft gegenseitig zu unterstützen. Der eingesetzte Gefangenbeirat leitet zusammen mit einem Mitarbeiterteam von Prison Fellowship den schwierigen Prozess, von einer Kultur der Gewalt zu einer Kultur der gegenseitigen Hilfe. Als Symbol für die Veränderung haben die Gefangenen bei der Eröffnungsfeier ihre Waffen abgegeben. Ca. 70 selbstgebaute Macheten, Dolche und Messer kamen dabei zusammen. Große Herausforderungen stehen jedoch noch bevor.

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Bisher gibt es nicht genügend Arbeitsmöglichkeiten für die Gefangenen. Neben der bestehenden Bäckerei sollen eine Schreinerei, eine Landwirtschaft und verschiedene andere Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten entstehen. Nur wenn die Gefangenen eine Perspektive bekommen und auch schon vom Gefängnis aus durch einen kleinen Verdienst ihre Familien unterstützen können, werden sie nicht wieder dazu übergehen, mit Drogen zu handeln. Prison Fellowship Kolumbien und die Hoffnungsträger Stiftung sind hier noch auf der Suche nach Partnern. Die Insassen sind sehr motiviert und so besteht Hoffnung, dass sie durch das Training, das sie im Gefängnis erhalten später dann in ihre Kommunen zurückkehren und dort Hoffnungsträger sein können. Merckle ist überzeugt, dass „das Modell geeignet ist, um im Rahmen des Friedensprozesses auch die Insassen, die der FARC oder der ELN angehören, auf ein Leben in Freiheit und Verantwortung vorzubereiten. So hoffen wir, dass in den nächsten Jahren mehrere solcher Programme in ganz Kolumbien entstehen“.

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  1. 1
    Martin Bauer

    Solange es sich um simple FARC Soldaten und Kleinkriminelle handelt, kann so ein Modell sicher greifen und ist in meinen Augen absolut begrüssenswert, auch wenn mit einer gewissen Rückfallquote zu rechnen ist. Was aber die Führer der FARC anbelangt, erinnert mich das doch stark an die Arche Noah, auf der Tiger, Löwen, Wölfe und Riesenschlangen friedlich neben Ziegen und Schafen gelebt haben sollen, ohne eine Erklärung, wovon sie sich so lange Zeit ernährten. Vielleicht von Dosenfutter…?

    Vor allem darf man nicht ausser Acht lassen, dass die FARC sich nach Belieben auf venezolanisches Territorium zurückzieht, wenn es in Kolumbien schwierig wird, und in engster bilateraler Beziehung zur venezolanischen Regierung steht. Wenn FARC-Führer in Kolumbien politisch aktiv werden dürfen, dann üben dort automatisch Maduro und Cabello politische Macht aus. Aber Santos scheint auf diesem Auge blind zu sein, oder es steckt noch Schlimmeres dahinter.

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