Wer historische Fotos von Gletschern mit aktuellen Aufnahmen vergleicht, wird feststellen, dass mittlerweile häufig Fels zu sehen ist, wo einstmals Eis lag. Geographen interessieren sich jedoch nicht vorrangig für die Ausdehnung, sondern vielmehr für die Masse eines Gletschers. Forscher der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) haben erstmals alle vergletscherten Gebiete Südamerikas so detailliert wie nie untersucht – von tropischen Gebieten Venezuelas bis in subpolare Regionen Feuerlands. Ihre zwei wichtigsten Erkenntnisse: Die größten Massenverluste gibt es im patagonischen Inlandeis und die Gletscher in den Tropen haben deutlich weniger Masse verloren als bisher hochgerechnet – was aber trotzdem keine gute Nachricht ist. Ihre Ergebnisse haben die Forscher jetzt im Fachmagazin Nature Climate Change veröffentlicht.*
Dass Gletscher vermessen werden, ist nichts Neues. Zwei Methoden kommen dabei besonders häufig zum Einsatz: Entweder nehmen Forscher einige Messungen direkt an einem Gletscher vor und rechnen die Ergebnisse auf ganze Regionen hoch. Das ist besonders in großen Gletschergebieten wie den großen Eisfeldern in Patagonien problematisch, da von dort kaum solche In-situ-Messreihen vorliegen. Die andere Möglichkeit sind sogenannte Schwerefeldmessungen mit Hilfe von Satelliten. Dafür machen sich Wissenschaftler die Tatsache zu Nutze, dass sich die Schwerkraft auf der Erde nicht nur je nach Ort, sondern auch im Zeitverlauf verändert. Sie wird unter anderem durch die unterschiedliche Zusammensetzung der Erdoberfläche, Gebirgsmassive, Bewegungen im Erdkern und Plattenverschiebungen beeinflusst – oder eben wenn Gletscher an Masse verlieren. Ein Nachteil dieser Methode: Sind nur kleine Gebiete von Gletschern bedeckt wie in den südamerikanischen Tropen, ist das Signal, das der Satellit empfängt schwach und die Messung wird sehr ungenau.
Ein Messverfahren für alle Gletscher
Die FAU-Geographen aus den Bereichen Fernerkundung und Geoinformation sowie physikalische Klimatologie um Prof. Dr. Matthias Braun und Dr. Tobias Sauter haben für ihre Vermessung der südamerikanischen Gletscher zwar ebenfalls auf Satellitendaten gesetzt, jedoch auf Höhenmessungen und nicht Schwerefeldanalysen. Seit 2010 kreisen zwei Radarsatelliten des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) um die Erde. Ziel der TanDEM-X-Mission war ein dreidimensionales Abbild der Erde in einheitlicher Qualität und bislang unerreichter Genauigkeit – Höhenunterschiede im Gelände wurden auf einen Meter genau erfasst. Diese Daten aus dem Zeitraum 2011-2015 nutzten auch die FAU-Geographen und verglichen sie mit Messungen der Shuttle Radar Topography Mission aus dem Jahr 2000. Aus den Differenzen berechneten sie in einem komplexen Verfahren – unter anderem mussten sie verschiedene Korrekturen und Fehlerberechnungen durchführen – die Höhenveränderungen in den Gletscherregionen Südamerikas und daraus die Veränderungen der Gletschermassen. Das Besondere daran: Sie konnten mit einem einheitlichen Messverfahren alle vergletscherten Gebiete in der Region erfassen. Zudem lieferte die Methode sogar präzise Daten für einzelne Gletscher. Durch den Vergleich der Messungen aus den beiden Raumfahrtmissionen entstand so ein detailliertes Bild für ganz Südamerika. Erstmals war es den Forschern auch möglich, die großen patagonischen Inlandeisflächen getrennt von umliegenden, kleineren Gletschern zu analysieren.
Ganze Gletscher verschwunden
Die größte Abnahme, sowohl absolut als auch relativ im Vergleich zu den anderen südamerikanischen Gletschern, stellten sie bei den beiden Patagonischen Inlandeisfeldern fest – zwei Gebiete, die mit einer Fläche von rund 18.000 Quadratkilometern in etwa so groß sind wie Rheinland-Pfalz. Die Masse der Gletscher ist dort zwischen 2000 und 2011/15 um rund 17,4 Gigatonnen pro Jahr geschrumpft, das entspricht 19,3 Kubikkilometer pro Jahr. Selbst Gletschergebiete, die in den Tropen liegen, haben nicht einen derart hohen Anteil ihrer Masse verloren. Der Grund dafür könnte sein, dass die großen Auslassgletscher in Patagonien, die nach engen Tälern zum Beispiel ins Meer oder in Seen fließen, eine dynamische Anpassung unterlaufen: Sie haben sich von einer stabilen Position zurückgezogen und müssen erst wieder eine neue stabile Front ausbilden. Diese Prozesse sind für Gezeitengletscher, die im Meer enden, bekannt und zunächst unabhängig von klimatischen Einflüssen, auch wenn diese Auslöser gewesen sein können. Dieses Phänomen spielt bei großen Gletschern, wie sie in Patagonien vorkommen, sogar eine bedeutendere Rolle als Einflüsse durch Temperaturänderungen. Was die Wissenschaftler bereits bei vorhergehenden Untersuchungen festgestellt hatten: Ganze Gletscher sind in Patagonien verschwunden – ein Ergebnis, das zwar für andere Gebiete in Bolivien bereits bekannt war, nicht jedoch in Patagonien.
Rückgang in Tropen geringer
Die zweite wichtige Erkenntnis: Die Massenänderungen der Gletscher in den tropischen Regionen Südamerikas, in Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien, sind deutlich geringer als bisher gedacht. So kamen bislang Hochrechnungen zu dem Ergebnis, dass die rund 2900 Gletscher dort eine Massenänderung von rund 6 Gigatonnen pro Jahr zeigen. Die FAU-Geographen haben jedoch herausgefunden, dass es nur 0,55 Gigatonnen pro Jahr sind, also nur rund 10 Prozent der bisherigen Schätzungen. Dieses Ergebnis ist deshalb wichtig, da in den tropischen und subtropischen Regionen die Gletscher relevant für die Wasserversorgung in der Trockenzeit sind: Wenn kein Regen fällt und die Temperaturen am höchsten sind, wird aus dem Schmelzwasser der Gletscher Trinkwasser gewonnen, werden damit Pflanzen bewässert und Kraftwerke angetrieben. Gerade für diese Regionen ist es daher wichtig zu wissen, wie stark sich die Gletscher ändern – und dafür sind quantitative Aussagen zu den Volumina und Massen von Bedeutung, nicht nur zu den Flächenänderungen. In einigen Gebieten wie den zentralen Anden von Chile und Argentinien oder der Cordillera Real in Bolivien gehen Experten sogar davon aus, dass die maximale Wassermenge durch Abschmelzen bereits überschritten ist. Das ist ein Hinweis darauf, dass Gletscher unaufhaltsam auf dem Rückzug sind und in absehbarer Zeit ganz verschwunden sein werden. Diese Gebiete werden also in Zukunft in der Trockenzeit mit weniger Wasser rechnen müssen.
Im Rahmen der Studie wurden jedoch auch einige Gebiete erstmals systematisch untersucht, die kaum Änderungen zeigten wie zum Beispiel die Anden im nördlichen Chile und Argentinien sowie im südlichen Bolivien auf der geographischen Breite der Atacama-Wüste.
Die Erlanger Forscher hoffen nun, dass ihre Studie Eingang in den nächsten Bericht des Weltklimarats findet – schließlich trägt ein Teil des abgeschmolzenen Gletschereises zum Anstieg der Meeresspiegel bei, vor allem die riesigen Eisflächen in Patagonien sind dafür relevant. Doch auch für andere Übersichtsanalysen werden Gletscher als ein Indikator für Klimaänderungen herangezogen. Die FAU-Geographen möchten nun ihre Analysen weiter ausdehnen auf andere Regionen und vor allem zeitlich fortschreiben. Derzeit läuft eine Aktualisierung des globalen Geländemodells der TanDEM-X-Mission – die Forscher hoffen, von diesen Daten in Zukunft profitieren zu können. Zudem setzen sie auf weitere geplante nationale Missionen wie die Tandem-L-Satelliten, die unter anderem solche Messungen mit höherer zeitlicher Wiederholungsrate ermöglichen würden.
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