Die russische Militäroffensive in der Ukraine eröffnet eine neue – als neokonservativ zu bezeichnende – Etappe in Präsident Wladimir Putins Bestreben, Russland wieder zu einer großen Weltmacht zu machen. Die Strategie ist klar: Wiederherstellung einer Zone russischen imperialen Einflusses durch eine Kombination aus Energiemerkantilismus und der Schaffung eines Sicherheitsgürtels von Staaten, die vom Kreml selbst kontrolliert werden. Die Besetzungen von Nordgeorgien (2008), der Krim und der Ostukraine (2014) sowie die jüngsten „friedenserhaltenden“ Missionen in Belarus und Kasachstan zeigen, dass Russland bereit und in der Lage ist, seine militärischen Streitkräfte in zunehmendem Maße und ohne große Hindernisse einzusetzen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer die Hauptverantwortung für diese Eskalation der Spannungen trägt und welche Ziele Russland kurz- und mittelfristig verfolgt. Einerseits ist zu bedenken, dass das politische Spiel, insbesondere auf internationaler Ebene, aus einer Dynamik von Aktion und Reaktion besteht, sowohl im Hinblick auf bestimmte Interessen als auch auf normative oder identitätsstiftende Narrative. Der Wunsch vieler NATO-Staaten und der Ukraine selbst, Kiew formell in die westliche Welt einzubinden, war ebenso stark wie der Anspruch Russlands, seine Interessen im nahen Ausland zu sichern.
Völlig ungerechtfertigt ist jedoch die Schändung der ukrainischen Souveränität: eine vorsätzliche Aggression gegen die grundlegenden Normen des Völkerrechts. Ein Verbrechen, wie die anglo-amerikanische Invasion des Irak im Jahr 2003. Es gibt keinerlei Rechtfertigung für Putin und seine Machtgruppe: Die Logik, Russland zu entschuldigen, indem man die USA und die NATO beschuldigt, ist gleichbedeutend mit einem Freispruch für einen Vergewaltiger, weil sein Opfer aufreizend gekleidet war. Was die Ziele Russlands anbelangt, so zeigt sich, dass die schlimmste Option Realität ist: keine kontrollierte Eskalation der Spannungen und nicht einmal die Anerkennung der Unabhängigkeit der selbsternannten Republiken der Ostukraine, Donezk und Lugansk, sondern eine traditionelle militärische Intervention mit dem Ziel, Präsident Zelenski zu stürzen und eine prorussische Regierung einzusetzen, die den Widerstand der Bevölkerung notfalls unterdrückt. Mit anderen Worten: die Ukraine soll in ein neues Belarus verwandelt werden. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass er Erfolg haben wird. Aber wie lange noch? Und vor allem, zu welchem Preis?
Es ist in der Tat an der Zeit, über die vielfältigen Folgen dieses Krieges nachzudenken. Kurzfristig besteht die Gefahr, dass die russische Offensive auf die Nachbarländer, von denen die meisten NATO-Mitglieder sind, übergreift und einen regionalen und globalen Konflikt zwischen Atommächten auslöst. Die Gefahr einer Destabilisierung der globalen Sicherheit ist ebenfalls real: eine Beschleunigung des neuen Wettrüstens, insbesondere im Bereich der neuen Technologien (Überschallraketen, Cyberangriffe, künstliche Intelligenz usw.), und die verstärkte Einkreisung Taiwans durch China scheinen die wahrscheinlichsten Szenarien zu sein. Aber die Gefahren sind auch wirtschaftlicher Natur. Ein Krieg, vor allem wenn er sich in die Länge zieht, könnte die Erholung nach COVID enorm beeinträchtigen und damit das zerbrechliche Gefüge unserer Gesellschaften, das in den letzten Jahren so stark strapaziert wurde, tief beschädigen. Finanzielle Ungewissheit und Preisvolatilität sind sehr starke Zutaten, um eine weitere Krise in der Realwirtschaft auszulösen. Hinzu kommen die Auswirkungen der wahrscheinlichen Migrationswelle ukrainischer Bürger nach Europa: Wie viele werden es sein, und wird die EU in der Lage sein, diese Herausforderung zu bewältigen?
Gleichzeitig muss man sich fragen, welche Auswirkungen die westlichen Sanktionen gegen Moskau haben werden. Wird Russland beispielsweise endgültig aus dem SWIFT-System ausgeschlossen, werden die Sanktionen ausreichen, um die Invasion zu stoppen und wird es ihnen gelingen, einen Prozess der Volksrevolte in Russland und seinen verbündeten Ländern auszulösen? Oder wird es China und anderen Ländern umgekehrt gelingen, die Härte der westlichen Sanktionen zu mildern? Wird Russland auf diese Weise zu einem Kunden Chinas? Schließlich muss man sich vorstellen, welche Folgen dies für andere Regionen der Welt, insbesondere für Lateinamerika, haben könnte. Einerseits könnten exportierende Volkswirtschaften, insbesondere von Öl und anderen Rohstoffen, von höheren Preisen profitieren und als gute Option für die Ausweitung ausländischer Direktinvestitionsprojekte wahrgenommen werden. Gleichzeitig könnten US-gegnerische Regime wie Kuba, Nicaragua und Venezuela versucht sein, ihre politischen und militärischen Beziehungen zu Moskau und Peking auszubauen.
Dieser Krieg kann jedoch ein gefährliches zweischneidiges Schwert sein. Es gibt mindestens drei Faktoren zu berücksichtigen. Erstens die negativen Auswirkungen höherer Ölpreise auf importierende Volkswirtschaften, die zu neuen sozialen und politischen Spannungen führen könnten. Zweitens die Preisvolatilität und damit das Risiko einer Kapitalflucht in die Vereinigten Staaten und den Dollar. Drittens: Eine größere außenpolitische Rolle Russlands und Chinas könnte nicht nur einen Bruch des Tlateloco-Vertrags von 1967 darstellen, sondern aufgrund einer möglichen Reaktion der USA auch zu weiteren internen und internationalen Spannungen führen. Die Situation ist sehr dynamisch und prekär, und wir müssen leider alle Optionen in Betracht ziehen, auch die schlimmsten.
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