In Kolumbien herrscht seit über 50 Jahren ein bewaffneter Konflikt. Auch wenn die größte Guerilla-Organisation (FARC) 2016 einen Friedensvertrag unterschrieben und ihre Waffen abgegeben hat und das Land inzwischen viel friedlicher ist, sind die Wunden längst noch nicht verheilt. Auch die Gewalt hat noch nicht aufgehört. Neben der ELN, der zweitgrößten Guerilla-Organisation und Dissendenten der FARC Bewegung, die eine neue FARC gegründet haben, gibt es vor allem noch die „BaCrim“, kriminelle Banden, die aus den Paramilitärs entstanden sind. Sie betreiben Drogenhandel und kontrollieren viele Gegenden. Während des bewaffneten Konflikts sind viele Zivilisten auch von der Armee umgebracht und als Guerilla-Kämpfer ausgegeben worden. Für die sogenannten „Falsos Positivos“ (Falsche Positiven) haben die Armeeangehörigen Anerkennung, Heimaturlaub und Prämien bekommen. Die Gemeinde Cocorna war besonders von dem Konflikt betroffen. Die Kleinstadt hatte ursprünglich 22.000 Einwohner. Während des Konflikts sind viele gestorben oder vertrieben worden, so dass die Kommune auf 12.000 Einwohner geschrumpft ist. Tobias Merckle hat im Namen der Gemeinde am Glemseck, die mit Brot für die Welt ein Versöhnungsprojekt in Cocorna unterstützt hat, besucht. Die Projektidee für die „Dörfer der Versöhnung“ entstand während eines Besuchs des Präsidenten von Prison Fellowship Kolumbien, Lacides Hernandez, und dem ehemaligen Sprecher der ELN, Francisco Galan, bei ihrem Besuch bei Seehaus e.V. in Leonberg im Gespräch mit Merckle. Aufbauend auf Erfahrungen von Prison Fellowship Ruanda nach dem Genozid haben sie gemeinsam die Projektidee auf kolumbianische Verhältnisse übertragen. Ehemalige Guerilla-Kämpfer, Paramilitärs und Armeeangehörige treffen sich mit Opfern des Konflikts und nehmen an dem Programm „Opfer und Täter im Gespräch“ teil. Im Anschluss bauen sie gemeinsam zerstörte Infrastruktur in ihren Dörfern auf oder arbeiten an anderen Gemeinschaftsprojekten. Das Programm wurde bisher in 17 Kommunen durchgeführt, es wurden Schulen renoviert, Brücken wiederaufgebaut, zerstörte Kirchen saniert oder Häuser der Erinnerung aufgebaut. 2512 Opfer und 1162 Täter haben an den Programmen teilgenommen.
Die „Dörfer der Versöhnung“ bieten einen Lösungsansatz, wie ehemalige Mitglieder bewaffneter Gruppen sich nicht nur mit gemeinnütziger Arbeit, die im Friedensvertrag vorgesehen ist, etwas für die traumatisierte Bevölkerung tun können, sondern gemeinsam mit ihnen für eine bessere Zukunft der jeweiligen Ortschaft arbeiten. Dadurch und durch die gemeinsamen Gespräche können alle Beteiligten die Vergangenheit besser verarbeiten und ein Stück weit hinter sich lassen und sich für eine bessere Zukunft engagieren. In Cocorna hat das Programm im Januar 2021 in enger Zusammenarbeit mit der „Mesa de Victimas“, einem Zusammenschluss von Opfern, der Stadtverwaltung und den Gemeindeältesten begonnen. Es fanden Kurse mit 3 Opfergruppen statt, die sich jeweils für 5-9 Monate einmal wöchentlich getroffen haben. Ebenso gab es Kurse mit eine Gruppe von ehemaligen Armeeangehörigen im Militärgefängnis und mit einer Gruppe von ehemaligen Militärs und ehemaligen FARC Mitgliedern statt. Die Opfer und Täter wurden jeweils separat auf die darauffolgenden fünf gemeinsamen Treffen mit Opfern und Tätern vorbereitet. Dabei haben die Opfer die Möglichkeit, ihre Leidensgeschichte zu erzählen und die Täter damit zu konfrontieren. Gleichzeitig können sie den Tätern Fragen stellen auch zum Verbleib ihrer Familienangehörigen. Dadurch können sie das Erlebte besser verarbeiten. Die Täter haben die Möglichkeit ihre Geschichte zu erzählen, Verantwortung zu übernehmen und um Vergebung zu bitten. Auch für viele von ihnen ist das wie ein Befreiungsschlag.
Nach einer Abschlussfeier der Gesprächsrunden im Militärgefängnis haben Opfer und Täter gemeinsam mit Vertreter der Dorfgemeinschaft den Park restauriert und wiederhergerichtet. Gemeinsam mit dem Künstler Alex Quintero haben sie ein Denkmal für den Frieden erstellt. Aus dem Krieg stammende Metallelemente wurden ein Bauer erstellt, der aus seinen Schultern die Last des Krieges trägt, einschließlich Vertreibung, Zwangsrekrutierung, Entführungen und Mord. In seinen Armen trägt er Blumen, die für Hoffnung, Vergebung und Neuanfang stehen. Merckle hat nun eine Abschlussrunde besucht, in der vom Konflikt Betroffene, Vertreter der Arbeitsgemeinschaft der Opfer, ehemalige FARC- Mitglieder, Paramilitärs, ehemalige Angehörige der Armee und der Bürgermeister und andere Vertreter der Stadt dabei waren. Dabei haben einige der Betroffenen berichtet und Teresa hat das Wort ergriffen: Viele sind gestorben, viele wurden vertrieben. Die meisten der anwesenden Frauen haben ihre Männer und Kinder verloren. Aber der Krieg hat sie stärker und mutiger gemacht. „Diejenigen die geblieben sind, sind durch das ganze Leid hindurch stark geworden und stark geblieben.“ Die Gewalt hat Cocorna 1993 erreicht. Verschiedene bewaffnete Gruppen haben Massaker durchgeführt. Sie selbst hat 1994 zwei ihrer Söhne und ihren Mann verloren. Das Bürgermeisteramt, in dem das Treffen stattgefunden hat, wurde während des Konflikts von den Rebellen in die Luft gejagt. Die meisten Bewohner haben die Gegend aus Angst verlassen. 2002 war ein Höhepunkt der Gewalt, danach ist sie etwas abgeebbt. Teresa betont wie wichtig es ihr ist, dass sie ihre Leidensgeschichte erzählen kann – für sie selbst, für die zukünftige Generationen, für die Welt: „Nunca mas“ (Nie wieder)! Als ihr Mann und ihre zwei Söhne umgebracht wurden, hat sie – wie viele andere der Frauen – ihre kleineren Kindern zu Verwandten weit entfernt in eine sichere Zone geschickt. Die Frauen haben sich zusammengetan. Sie haben sich durchgeschlagen. Sie haben Landwirtschaft betrieben, Lebensmittel und Hygieneartikel hergestellt, Handel getrieben. Die Angst hat sie ständig begleitet. Oft mussten sich auf den Boden legen, um nicht durch umherfliegenden Kugeln getroffen zu werden. „Wir sind resiliente Frauen, wir Frauen haben die Stadt wieder aufgebaut“.
Inzwischen wohnen wieder 20.000 Menschen in Cocorna. Teresa berichtet weiter, dass sich Cocorna jedoch noch längst nicht erholt hat. Die Menschen leiden noch psychisch an den Folgen des Konflikts und die früher landwirtschaftlich reiche Gegend muss nun Lebensmittel von anderen Orten einkaufen. Die Felder bleiben leer, da die jungen Menschen nicht zurückkommen. Eine Lösung hierfür ist nicht in Sicht. „Krieg hinterläßt immer Leiden und Armut“, so Teresa weiter. Trotzdem gibt sie die Hoffnung nicht auf: Wir unterstützen einander. Die größte Hoffnung ist: Nunca mas! Nie wieder! Sie und die anderen Frauen berichten, dass sie sich nie vorstellen konnten, mit Mitglieder der bewaffneten Gruppen, die ihnen so viel Leid angetan haben, in einem Raum zu sein. Am Anfang war es sehr schwierig für sie. „Prison Fellowship hat uns sehr gut vorbereitet, sie haben uns durch diesen ganzen Prozess durchgeholfen“, so Teresa. Wenn sie heute zu den Treffen kommt, fühlt sie Frieden, fühlt sie Gemeinschaft. Sie betont, dass sie innere Heilung erfahren hat. Suzanna berichtet von ihrer Leidensgeschichte. Sie hat in Esperanza („Hoffnung“) gewohnt. 2004 wurden drei Dorfgemeinschaften aus der Gegend vertrieben. Sie sind dann in Cocorna gelandet. Sie haben alles verloren und haben unheimlich unter der Situation gelitten. 2005 wollten sie zurück, aber es war alles vermint. Die bewaffnete Gruppen haben all ihre Tiere abgeschlachtet und das Land verwüstet. Sie können das Land auch nicht vollständig bearbeiten, da die jungen Leute nicht zurückgekehrt sind. Viele Organisationen seien gekommen, aber sie hätten ihnen gar nicht richtig zugehört und wollten nur ihr Programm durchziehen. Bei Prison Fellowship sei dies anders. „Sie haben uns zugehört. Sie sind uns zur Seite gestanden. Sie haben uns geholfen, vorwärts zu blicken und vorwärts zu gehen“. Marta beschreibt das Erlebte so: „Wir haben einen sehr grausamen Krieg durchlebt. Tag für Tag, Stunde für Stunde, Sekunde für Sekunde haben wir gelitten“.
Sie und viele der Frauen betonen, wie sehr ihnen das Programm geholfen hat und wie wichtig es ihnen ist, dass auch die internationale Gemeinschaft ihr Leid sieht und sie unterstützt. Sie sind dankbar für Brot für die Welt, dankbar für Prison Fellowship und dankbar für internationale Besucher, die ihre Geschichte in Deutschland erzählen und ihnen eine Stimme geben.
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