Viele Tiere nutzen Gifte zur Selbstverteidigung oder zur Jagd. Dafür greifen Giftbestandteile, sogenannte Toxine, in verschiedene physiologische Prozesse ein. Das macht sie auch interessant für die Entwicklung neuer pharmakologischer Wirkstoffe. Einige Tiergruppen wie die Schlangen, Spinnen, Skorpione und Insekten sind hinsichtlich ihrer Gifte bereits recht gut untersucht. Anders sieht es bei marinen Tiergruppen aus: Hier existieren Daten bisher nur für einzelne Tierarten, so dass diese Gruppe noch großes ungenutztes Potenzial bereithält. Erst vor wenigen Jahren wurde entdeckt, dass es auch unter den Krebstieren (Crustacea) giftige Vertreter gibt: die Remipeden, die optisch eher an Hundertfüßer erinnern und in marinen Unterwasserhöhlen leben. Ein multidisziplinäres Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Björn von Reumont, der 2014 erstmals ein Giftsystem bei Remipeden nachwies und derzeit als Gastwissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt forscht, hat nun eine Gruppe von Toxinen aus dem Remipeden Xibalbanus tulumensis charakterisiert.
Der Remipede Xibalbanus tulumensis bewohnt die Cenoten – die Unterwasser-Höhlensysteme auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan. Das in einer Giftdrüse gebildete Gift injiziert der Höhlenbewohner gezielt in seine Beutetiere. Es enthält eine Vielzahl von Komponenten, darunter eine neue Art von Peptiden, die nach ihrem Produzenten als Xibalbine bezeichnet werden. Einige dieser Xibalbine enthalten ein charakteristisches Strukturelement, das auch von Toxinen vor allem aus Spinnen bekannt ist: Mehrere Aminosäuren (Cysteine) des Peptids sind so miteinander verbunden, dass eine knotenähnliche Struktur (englisch ‚knot‘) entsteht. Sie verleiht den Peptiden Widerstandsfähigkeit gegen Enzyme, Hitze und extreme pH-Werte. Derartige Knottine wirken oft als Neurotoxine, die mit Ionenkanälen interagieren und daher Beutetiere lähmen können, was auch für einige Xibalbine angenommen wurde.
Die Studie zeigt nun, dass alle, primär von den Doktoranden der Kooperationspartner, getesteten Xibalbin-Peptide – insbesondere Xib1, Xib2 und Xib13 – Kaliumkanäle in Säugetiersystemen wirksam hemmen. „Diese Hemmung ist von großer Bedeutung für die Entwicklung von Wirkstoffen für die Behandlung einer Reihe von neurologischen Krankheiten, einschließlich Epilepsie“, sagt von Reumont. Xib1 und Xib13 zeigen zusätzlich die Fähigkeit, spannungsabhängige Natriumkanäle zu hemmen, wie sie etwa in Nerven- oder Herzmuskelzellen vorkommen. Außerdem können die beiden Peptide in Sinnesnervenzellen (sensorischen Neuronen) höherer Säugetiere zwei in die Signalübertragung involvierte Proteine aktivieren, die Kinasen PKA-II und ERK1/2. Letzteres lässt vermuten, dass sie an der Schmerzsensibilisierung beteiligt sind, was neue Ansätze in der Schmerztherapie eröffnet.
Die Bioaktivität der Xibalbine verdeutlicht das ungenutzte Potenzial der marinen Artenvielfalt. Die Herstellung von Arzneimitteln aus Tiergiften ist jedoch ein komplexer und zeitaufwändiger Prozess. „Geeignete Kandidaten zu finden und ihre Wirkung umfassend zu charakterisieren, sodass damit die Basis für sichere und wirksame Arzneimittel gelegt wird, ist heute nur noch in einem großen interdisziplinären Team wie in unserer Studie möglich“, so von Reumont.
Hinzu kommt, dass im Falle der Remipeden die Zeit drängt. Ihr Lebensraum ist durch den Bau des Intercity-Eisenbahnnetzes Tren Maya quer durch die Halbinsel Yucatan massiv bedroht. „Die Cenoten sind ein hochsensibles Ökosystem“, erklärt Studienleiter von Reumont, der als erfahrener Höhlentaucher während mehrerer Höhlentauchexpeditionen Remipeden in Yucatan gesammelt hat. „Unsere Studie verdeutlicht, wie wichtig der Schutz der biologischen Vielfalt ist – nicht nur wegen ihrer ökologischen Bedeutung, sondern auch wegen potenziellen Inhaltsstoffen, die für uns Menschen von entscheidender Bedeutung sein können.“
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