Unbekannter Klassiker der lateinamerikanischen Geschichte: Manuskript „Paraguay Cultivado“ aus dem 18. Jahrhundert

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Das Manuskript „Paraguay Cultivado“ beschreibt landwirtschaftliche Abläufe in Text und Bildern – und dokumentiert den Sprachkontakt von Spanisch und Guaraní (Foto: Hispanic Society of America)
Datum: 01. Mai 2025
Uhrzeit: 07:18 Uhr
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Autor: Redaktion
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Er ist eine herausragende Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts – José F. Sánchez Labrador (1717­–1798). Allerdings ist er heute nur wenigen Fachleuten bekannt. Ein Grund dafür: Sein Hauptwerk wurde bis heute nicht durchgängig veröffentlicht. Die über 4.000 Seiten starke, dreiteilige enzyklopädische Beschreibung Paraguays war lange nicht zugänglich. Der Lagerort von zumindest zwei der drei Teile war bekannt, doch das Werk nur als Manuskript einsehbar. Inzwischen sind Editionen der ersten beiden Teile, „El Paraguay Natural Ilustrado“ (1767–1776) (in Teilen) und „El Paraguay Catholico” (1769–1772), erschienen. Nun soll auch der dritte Teil, „El Paraguay Cultivado“ (1772-1776, ergänzt bis ca. 1790) folgen. Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Joachim Steffen, Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Sprachwissenschaft (Romanistik) an der Universität Augsburg, wird das Manuskript untersuchen und eine Veröffentlichung vorbereiten. Das Projekt ist eine Kooperation mit Prof. Dr. Harald Thun von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Es wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit rund 500.000 Euro gefördert.

Originellster Teil, lange verschollen

„‚Paraguay Cultivado‘ ist der originellste Teil der Trilogie“, erklärt Steffen. Die beiden anderen Teile der Enzyklopädie behandeln Themen, die großteils auch in anderen Schriften der Zeit vorkommen. Anders hingegen „Paraguay Cultivado“: Es entwirft ein Programm für die Zukunft. Beeinflusst von Ideen der Aufklärung und entstanden im Exil nach der Ausweisung der Jesuiten aus Südamerika, beschreibt es, wie die Landwirtschaft in Paraguay modernisiert werden könnte. „Das ist sprachwissenschaftlich und kulturwissenschaftlich interessant. Aus dieser Sicht ist es der lohnendste Teil der Trilogie“, erklärt Steffen. Dass dieser Klassiker der Geschichte der Landwirtschaft in Südamerika noch fast vollkommen unbekannt ist, liegt auch daran, dass der Teil des Manuskripts etwa hundert Jahre als verschollen galt. Erst 2017 wurde er wiederentdeckt, aber nicht veröffentlicht. Das möchte das Forschungsprojekt nachholen.

Kompletten Text zugänglich machen

Geplant ist eine vollständige digitale und gedruckte Ausgabe von „Paraguay Cultivado“. Dafür soll das handschriftliche Manuskript transkribiert, übersetzt und kommentiert werden. Das Werk verweist vielfach auf andere Schriften, etwa auf Landwirtschaftsbücher aus der Renaissance oder auf die Encyclopédie (1751–1772) von Diderot und d’Alembert, nennt aber nicht die genauen Stellen der zitierten Schriften. Das möchte das Forschungsteam nun aufarbeiten. „Wir möchten präzise Verweise und Quellenangaben ergänzen und die betreffenden Auszüge ebenfalls transkribieren.“ So soll eine umfassende kritische Edition des „Paraguay Cultivado“ entstehen. Nach Möglichkeit wird sogar die gesamte 4.400 Seiten starke Trilogie neu transkribiert. Denn die ersten beiden Teile wurden zwar veröffentlicht, sind aber kaum zugänglich. „Zum ersten Mal in der Rezeptionsgeschichte wäre dann eine umfassende vergleichende Interpretation des Werks möglich“, sagt Steffen.

Vielsprachiger Text, besonderes Layout

Die Transliteration wird eine Herausforderung. Zwar wird das Forschungsteam dabei von einem KI-Tool unterstützt. Es wurde am Korpus trainiert und erkennt den Text sehr zuverlässig. Doch das Manuskript weist einige Besonderheiten auf. So ist das Layout komplex: Jede Buchseite ist zweigeteilt und enthält zusätzlich zum Haupttext auch Randbemerkungen und Fußnoten. Daher muss zusammenhängender Text für jede Buchseite einzeln in „Textregionen“ markiert werden. Außerdem kommen neben Spanisch weitere Sprachen vor, darunter Italienisch, Latein, Französisch, Englisch und Guaraní. Diese Sprache gehört zur Sprachfamilie der Tupí-Guaraní-Sprachen und wird heute in Paraguay und in Teilen Argentiniens, Boliviens und Brasiliens von einigen Millionen Menschen gesprochen. Bei Wörtern aus diesen Sprachen macht das Programm öfter Fehler, und die Forschenden müssen das Ergebnis besonders genau prüfen.

Sprache und Handwerk

Wissenschaftlich interessant ist „Paraguay Cultivado“ auf mehreren Ebenen. „Es dokumentiert den Sprachkontakt von Spanisch und Guaraní und zeigt, wie sich die Sprachen gegenseitig beeinflusst haben“, erklärt Steffen. Denn die Jesuiten haben auf Guaraní missioniert, dafür die Grammatik der Sprache beschrieben und Wörter für den christlichen Wortschatz neugeformt. In Sánchez Labradors Werk zeigen sich jedoch Abweichungen von der traditionellen Form des jesuitischen Guaraní des 17. Jahrhunderts, die auf Neuerungen hindeuten. Zudem beschreibt „Paraguay Cultivado“ das damalige Handwerk: „Welche Rohstoffe, welche Materialien wurden eingesetzt? Darüber ist heute weniger bekannt, als man meinen könnte“, erläutert Steffen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Corinna Gramatke widmet sich diesem Thema aus geschichtlicher Perspektive, während mit Dr. Leonardo Cerno ein Fachmann für das „guaraní colonial“ gewonnen werden konnte. Ergänzt wird das Team durch den Doktoranden Christian Wilson, der eine ethnolinguistische Spezialisierung anstrebt.

Geschichte des Kolonialismus aufklären

Auch als historische Quelle ist „Paraguay Cultivado“ wertvoll. So enthält es Informationen unterschiedlicher Art, zum Beispiel über die jesuitische und indigene Medizin und das soziale Leben in der Region sowie die Jesuitenmission im Allgemeinen. Es dokumentiert den Kulturkontakt und ermöglicht eine differenzierte Betrachtung der Kolonialzeit. „Heutzutage gibt es oft die vereinfachende Annahme: Die Europäer kamen und unterdrückten die anderen. Tatsächlich war das Geschehen in Paraguay vielschichtiger“, sagt Steffen. „Natürlich fand eine ideologische Bevormundung statt. Doch niemand wurde mit dem Schwert gezwungen, in den Reducciones, also den von Jesuiten geschaffenen Siedlungen für die Guaraní, zu bleiben. Auf einen oder zwei Pater kamen etwa 2.000 bis 7.000 Guaraní.“ Die indigenen Communities verfolgten in dem Kulturkontakt auch eigene Interessen, so Steffens These. „Unser Wunsch ist es, diese Vielschichtigkeit sichtbar zu machen und dazu beizutragen, über die Kolonialzeit aufzuklären.“

Historische Rezepte nachkochen

Ein Nebenprojekt zeigt, welchen praktischen Nutzen die Auseinandersetzung mit dem historischen Werk heute haben kann: Zusammen mit einem Ethnobotaniker soll ein Buch mit Rezepten aus „Paraguay Cultivado“ entstehen. Dafür werden diese zusammen mit einer indigenen Guaraní-Community und einer spanisch-argentinischen Köchin nachgekocht. Zudem geben die Rezepte interessante Hinweise auf Handelsnetzwerke im 18. Jahrhundert.

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