Was steckt hinter dem „Reborn Doll“-Phänomen in Brasilien?

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Die berühmten Reborn-Babys, die wie echte Kinder aussehen, sind im Internet weltweit und auch in Lateinamerika zum absoluten Trend geworden (Fotos: mercadolivre/ Reprodução/TV Globo)
Datum: 02. Juni 2025
Uhrzeit: 15:09 Uhr
Ressorts: Brasilien, Panorama
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Redaktion
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Die berühmten Reborn-Babys, die wie echte Kinder aussehen, sind im Internet weltweit und auch in Lateinamerika zum absoluten Trend geworden. Auch wenn sie für viele Menschen in Brasilien, Chile, Paraguay oder Argentinien noch eine Neuheit sind, weckt diese Subkultur das Interesse, die Neugier und die Verwunderung Tausender Menschen. Eine Klage in Brasilien hat nun die Problematik derjenigen aufgezeigt, die wie eine Mutter ihre Kinder versorgen, einschließlich Geburten, Unterlagen und Medikamente. In den letzten Tagen hat in Salvador im Bundesstaat Bahia eine 32-jährige Frau, Besitzerin einer „Reborn“-Puppe, ein Unternehmen vor Gericht gebracht, nachdem ihr Antrag auf Mutterschaftsurlaub zur Pflege der Puppe abgelehnt worden war. Diese Puppen sind hyperrealistisch und sehen aus wie echte Babys. Sie sind handbemalt, haben einzeln implantierte Haare und werden oft mit Zubehör wie Windeln, Kleidung und sogar Geburtsurkunden geliefert. Nach Angaben der Verteidigung der Frau habe die Verweigerung des Urlaubs ihr ein tiefes psychologisches Trauma zugefügt, da die Angestellte eine starke emotionale Bindung zu der Puppe aufgebaut hatte. Der Fall wurde vor das Arbeitsgericht gebracht, und hätte die Frau nicht schließlich darauf verzichtet, hätte er einen Präzedenzfall im Zusammenhang mit dem wachsenden Phänomen der Reborn-Puppen in Brasilien schaffen können.

Die ersten Puppen dieser Art tauchten in den 1990er Jahren in den Vereinigten Staaten auf, als Künstler begannen, industriell gefertigte Puppen so zu verändern und umzugestalten, dass sie realistischer, wie echte Babys, aussahen. Dieser kreative Prozess des Bemalens, Einpflanzens von Haaren, Verändern des Körpers und der Gesichtszüge wurde als „Reborning“ bezeichnet, also ‚Wiedergeburt‘ der Puppe. Das Phänomen ist im größten Land Südamerikas mittlerweile so weit verbreitet, dass Ende Mai sogar ein Treffen von „Reborn-Müttern“ in einem Park in São Paulo, dem Villa Lobos, stattfand. Aber es handelt sich nicht um einfaches Sammeln. Kürzlich wurden in Brasilien sogar Kliniken eingerichtet, in denen die Käuferinnen der Puppen deren „Geburt“ in einem Saal erleben können, der einem normalen Kreißsaal nachempfunden ist. Es kursierte sogar ein Video, in dem eine junge Frau eine Reborn-Puppe zu einem Besuch in ein echtes Krankenhaus mitbrachte. Ein katholischer Priester, Chrystian Shankar aus der Diözese Divinópolis im Bundesstaat Minas Gerais, erklärte in den sozialen Netzwerken, dass er die Puppen nicht taufen und ihnen auch keinen Religionsunterricht oder eine Erstkommunion anbieten werde. Er fügte hinzu, dass solche Anfragen von Psychologen und Psychiatern behandelt werden sollten.

„Das Phänomen auf einfaches Sammelverhalten zu reduzieren, ist eine oberflächliche Analyse. Die tiefen sozialen Ungleichheiten in Brasilien führen dazu, dass viele Kinder in benachteiligten Verhältnissen aufwachsen, ohne Zugang zu Spielzeug und ohne Chancen auf eine gesunde Entwicklung. Einige arbeiten schon von klein auf, um zum Familieneinkommen beizutragen, und erleben eine Kindheit, die von Entbehrungen geprägt ist“, erklärt Catarina Andréa Santana Teixeira Azevedo, Neuropsychologin an der Universität von São Paulo. Der Expertin zufolge „ist es in diesem Zusammenhang möglich, dass die Bindung an Reborn-Puppen mit unerfüllten Kindheitswünschen zusammenhängt, die im Erwachsenenalter in Form von symbolischer Fürsorge wieder auftauchen. Viele Frauen berichten, dass sie nie Spielzeug hatten und nun durch die Pflege einer Reborn-Puppe etwas erleben, was ihnen verwehrt blieb. Die Praxis kann als eine Geste der emotionalen Wiedergutmachung fungieren, als ob jede Geste der Fürsorge, die der Puppe zuteilwird, auch an das verletzte innere Kind gerichtet wäre. Laut der Neuropsychologin offenbart das Phänomen auch andere Bedeutungsebenen.

“Einige Mütter, die ihre Kinder verloren haben, finden in der Puppe eine symbolische Form der Trauerbewältigung. Andere Menschen, die in ihrer Kindheit eine emotionale Distanz zu ihren Eltern erlebt haben, sehen in der Reborn-Puppe eine Möglichkeit, ihrer Geschichte mit Zuneigung einen neuen Sinn zu geben. In einigen Berichten hören wir Aussagen wie: ‚Dieses Mädchen bin ich‘“, erklärt Azevedo. Die UNO bringt Armut mit Symptomen wie Angstzuständen und Depressionen in Verbindung. „In diesem Szenario kann die Reborn-Puppe die Rolle eines Übergangsobjekts gegenüber der Trennungsangst übernehmen, etwas Symbolisches, das das Kind nutzt, um die Abwesenheit der Mutter zu ertragen, und das als unbewusster Mechanismus dient, um mit dem “Nicht-Sein„, dem “Nicht-Können„ und dem “Nicht-Existieren“ umzugehen. Mit anderen Worten: Das Reborn-Kind kann die Projektion eines unbewussten Konflikts sein, aber mit einer Aufforderung an die Person selbst, sich mit dem Ausdruck mütterlicher Liebe um ihren Schmerz zu kümmern“, so Azevedo.

Derzeit scheint nichts diesen Boom in Brasilien aufhalten zu können, obwohl die Puppen nicht gerade billig sind. Selbst in den entlegensten Gemeinden im Nordosten Brasiliens sind Frauen auf Motorrädern untewrwegs, die ihre Puppe im Arm hgalten. In Campinas und Guaratinguetá im Bundesstaat São Paulo verzeichnen diese „Babys“ einen exponentiellen Anstieg der Verkaufszahlen, wobei die Preise pro Puppe zwischen 700 und fast 10.000 Reias (zwischen 122 und 1.745 Dollar) liegen. Das Phänomen der Reborn-Puppen hat solche Ausmaße angenommen, dass es eine öffentliche Debatte ausgelöst hat, in die auch Gesetzgeber involviert sind. Der Abgeordnete João Luiz von der Partei Republicanos, Mitglied der Legislativen Versammlung des Bundesstaates Amazonas, hat die Schaffung eines Gesetzes zur Regulierung der Verwendung von Reborn-Puppen vorgeschlagen, um zu verhindern, dass sie wie echte Babys behandelt werden. Während einer Plenarsitzung äußerte der Abgeordnete seine Besorgnis über Fälle, in denen Personen mit Reborn-Puppen Rechte beanspruchten, die nur echten Müttern zustehen, wie beispielsweise Vorrang in Warteschlangen, ein Recht, das nur Frauen gewährt wird, die gerade entbunden haben oder Kinder auf dem Arm tragen. In seiner Rede brachte João Luiz eine Reborn-Puppe mit in den Saal, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Er kündigte außerdem einen Gesetzentwurf an, der Menschen, die eine intensive emotionale Bindung zu diesen Puppen entwickeln, psychologische Unterstützung durch das SUS, das öffentliche Gesundheitssystem, anbieten soll.

Die Bundesabgeordnete Rosangela Moro von der Partei União Brasil, Ehefrau des ehemaligen Richters Sergio Moro, Symbolfigur der Antikorruptionsoperation Lava Jato und heute Senator derselben Partei, legte ebenfalls einen ähnlichen Gesetzentwurf vor. Dem Text ihres Vorschlags zufolge soll die psychiatrische Behandlung unter Achtung der emotionalen Vielfalt und ohne Stigmatisierung oder Demütigung der Betroffenen erfolgen. Der Entwurf sieht auch Beratung und Unterstützung für Familien vor, um Warnsignale wie zwanghaften Gebrauch, Realitätsflucht oder emotionale Abhängigkeit zu erkennen. Der Abgeordnete Zacarias Calil von der Partei União Brasil hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der administrative Sanktionen für diejenigen vorsieht, die Reborn-Puppen oder ähnliche Gegenstände verwenden, um Vorteile für echte Kinder zu erlangen, wie z. B. bevorzugten Zugang zu Warteschlangen. Die vorgesehenen Geldstrafen liegen zwischen fünf und zwanzig Mindestlöhnen und können bei Wiederholung verdoppelt werden.

Reborn-Puppen kamen vor etwa 20 Jahren nach Brasilien. Doch erst seit etwa zehn Jahren bildeten sich vor allem in São Paulo Gruppen mit drei unterschiedlichen Profilen: die sogenannten „Reborn-Störche“, also die Handwerkerinnen, die die Puppen herstellen, die Sammlerinnen und eine kleinere Gruppe, die die Puppen zu therapeutischen Zwecken einsetzt, insbesondere bei Kindern mit Autismus und älteren Menschen mit Demenz wie Alzheimer. „Das Wachstum dieser Gruppen fiel mit dem Boom der sozialen Netzwerke zusammen. Es kursierten Videos, in denen die Pflege der Puppen wie die von echten Kindern simuliert wurde, was die Aufmerksamkeit von YouTubern und Influencern auf sich zog, die begannen, diese Welt zu persiflieren, was zu einer Mischung aus Humor und Verwirrung führte. Ein Teil der Öffentlichkeit, der den ironischen Ton nicht verstand, begann, diese Situationen als real zu verbreiten„, erklärt die Neuropsychologin Azevedo. Laut der Expertin “hat dieses Phänomen in Brasilien aufgrund einer Reihe von Faktoren wie kultureller Analphabetismus, emotionale Labilität eines Teils der Bevölkerung und die Art und Weise, wie Inhalte in sozialen Netzwerken verbreitet werden, größere Ausmaße angenommen“. „Dieses Verhalten ist nicht nur in Brasilien zu beobachten. Ich glaube, es kann in jedem Land auftreten, das mit einer ähnlichen sozio-emotionalen Destrukturierung konfrontiert ist, auch wenn es bisher in anderen Ländern nicht so stark ausgeprägt war“, schließt Azevedo.

In sozialer Hinsicht hat das Phänomen der Reborn-Puppen eine erneute nationale Debatte über die Situation der Frauen in Brasilien, ihre Rolle in der Gesellschaft, ihr Leiden und ihr Verhältnis zur Mutterschaft ausgelöst. Laut dem Brasilianischen Institut für Geografie und Statistik (IBGE) machen alleinerziehende Mütter, ein in dem lateinamerikanischen Land weit verbreitetes Phänomen, fast 90 % der Einelternfamilien aus und leben oft in wirtschaftlicher Not. Mütter im Allgemeinen, nicht nur diejenigen aus den unteren Schichten, sind beim Zugang zum Arbeitsmarkt starker Diskriminierung ausgesetzt, da sie oft von Einstellungen ausgeschlossen oder nach der Schwangerschaft entlassen werden. Die Arbeitslosenquote unter Frauen mit Kindern ist höher als unter Frauen ohne Kinder und deutlich höher als unter Männern. Darüber hinaus verzeichnet Brasilien nach wie vor sehr hohe Raten von Frauenmorden und häuslicher Gewalt. Nach Angaben des Brasilianischen Forums für öffentliche Sicherheit, in dem Vertreter der Zivilgesellschaft und Institutionen zusammenkommen, um die Sicherheit in Brasilien zu überwachen, wird in dem lateinamerikanischen Land alle sechs Stunden eine Frau ermordet. Auch in der Politik gibt es noch viel zu tun. Frauen stellen nur 18 % des Nationalkongresses, obwohl sie mehr als 50 % der Bevölkerung ausmachen.

Politikerinnen und Frauen in öffentlichen Ämtern sind häufig Opfer sexistischer Angriffe und geschlechtsspezifischer Diskreditierung. Am 27. Mai wurde die brasilianische Umweltministerin Marina Silva während einer Anhörung im Infrastrukturausschuss des Senats schwer beleidigt. Marina Silva war eingeladen worden, um über die Schaffung eines Meeresschutzgebiets in der Region Margem Equatorial zu diskutieren, und wurde von einigen Senatoren verbal attackiert, darunter Plínio Valério von der Partei der Brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) und Marcos Rogério von der Liberalen Partei (PL) des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro. Valério sagte über sie: „Frauen verdienen Respekt, die Ministerin nicht.“ Da Valério sich weigerte, sich zu entschuldigen, verließ die Ministerin die Sitzung. Zuvor hatte derselbe Senator erklärt, er habe während einer anderen Sitzung den Impuls verspürt, sie „zu erwürgen“. Senator Rogério beleidigte die Ministerin ebenfalls, indem er ihr sagte, sie solle „wissen, wo ihr Platz ist“. Letztes Jahr fragte Präsident Lula bei der Vorstellung des Wohnungsbauprogramms für mittellose Menschen „Mi casa, mi vida“ (Mein Haus, mein Leben) eine 27-jährige Frau mit fünf Kindern, die Begünstigte des Programms ist, „Wann drehst du endlich den Hahn zu?“, wobei er auf ihre Schwangerschaften anspielte.

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