Aus heutiger Sicht denken wir bei „Natur“ meist an unberührte, wilde Ökosysteme, in denen kein menschlicher Einfluss erkennbar ist. Mit anderen Worten: Wir verstehen Natur in der Regel als einen Ort, an dem der Mensch nicht ist und nie war. Nach dieser Logik ist es für diejenigen, die in Rio de Janeiro leben oder die Stadt besuchen, immer noch üblich, den Wald des Tijuca-Nationalparks als gutes Beispiel für unberührte Natur zu betrachten. Schließlich handelt es sich um einen Wald innerhalb eines Naturschutzgebiets, in dem nur die indirekte Nutzung der natürlichen Ressourcen erlaubt ist. Eines der Ziele dieser Art von Schutzgebiet – des Parks – ist es, „Erholung im Kontakt mit der Natur” zu ermöglichen. Das heißt, die Natur ist dort, innerhalb der Grenzen des Parks, damit wir sie bei unseren notwendigen Ausflügen aus den Städten besuchen können. Wir hingegen sind hier draußen in unseren Betonwäldern. Aber ist das wirklich so? Ist diese Trennung zwischen Mensch und Natur wirklich real? Haben wir nicht ein bisschen Stadt im Wald und Wald in der Stadt?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns mit der Umweltgeschichte dieser Wälder – und der Stadt um sie herum – befassen. Das Gebiet, das heute zum meistbesuchten Nationalpark Brasiliens gehört, war Schauplatz einer der bemerkenswertesten Wiederaufforstungsmaßnahmen in der Geschichte des Landes. Zwischen 1862 und 1894 forsteten Major Manuel Gomes Archer und Thomaz Nogueira da Gama – mit der unverzichtbaren Hilfe von 11 Sklaven – eine Fläche von etwa 300 Fußballfeldern in dem Gebiet, in dem sich heute der Park befindet, auf. Obwohl dies sehr repräsentativ ist, entspricht dies nur 8 % der heutigen Fläche des Tijuca-Parks, die sich hauptsächlich auf den Stadtteil Alto da Boa Vista konzentriert. Obwohl direkt und indirekt von diesem Projekt beeinflusst, erfolgte die Rückkehr des restlichen Waldes, der heute im Park und in den übrigen Gebieten des Tijuca-Massivs zu finden ist, ohne direkte Anpflanzung von Bäumen, sondern durch natürliche Regeneration. Diese Rückkehr brachte jedoch einen Wald mit sich, der sich von dem zuvor existierenden unterschied. Darüber hinaus verbarg der bemerkenswerte Regenerationsprozess des Waldes unter den Kronen der neu entstandenen Bäume verschiedene Spuren einer menschlichen Präsenz, die vor dem Wald, wie wir ihn heute kennen, existierte.
Viele dieser Spuren helfen uns, einen Teil der Geschichte zu erzählen, der nicht in Büchern und Dokumenten zu finden ist. Ein Teil dieser Zeugnisse muss von Experten genau untersucht werden, um wahrgenommen zu werden. Andere hingegen sind für die Besucher des Parque Nacional da Tijuca offen sichtbar. Wanderwege, Mühlen, Farmen, Kohleöfen und Obstgärten Einer der deutlichsten Beweise sind die alten Wanderwege und Pfade, die zum Transport verschiedener Produkte aus dem Massiv genutzt wurden, wie Brennholz, Kohle und Kaffee. Einige dieser Wege sind noch teilweise gepflastert, wie die berühmten Wanderwege Pedra da Gávea, Pedra Bonita und Transcarioca. Viele Wanderwege führen zu Ruinen alter Zuckerrohrmühlen und Kaffeefarmen, wie den Ruinen von Mocke, die einen Teil der Geschichte der größten Kaffeefarm Rio de Janeiros in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewahren.
In der Umgebung dieser Gebäude ist es nicht ungewöhnlich, alte Flaschen unter dem Waldboden zu finden. Aquädukte, Steinmauern und Fundamente alter Häuser sind nur einige der über 150 Überreste menschlicher Bauten aus verschiedenen Epochen, die noch heute im Wald zu finden sind. Einige dieser Überreste stehen im Zusammenhang mit der Herstellung von Holzkohle, die bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die wichtigste Energiequelle von Rio de Janeiro war. Die Köhler, die dort Holz fällten und Holzkohle herstellten, brauchten oft vorübergehende Unterkünfte im Wald. Die Spuren dieser Köhlereien sind ebenfalls im Wald erhalten geblieben. Bis heute wurden im Tijuca-Nationalpark und den angrenzenden Gebieten mehr als 380 ehemalige Holzkohleproduktionsstätten gefunden.
Exotische Bäume wurden Teil der Landschaft und Kultur
Auch die Bäume des Parks erzählen eine lange Geschichte. Hundertjährige Feigenbäume stehen wie wahre Älteste im Wald. Sie wurden während der Jahre der Abholzung aufgrund ihres symbolischen und religiösen Wertes verschont und spiegeln die Kultur im Wandel des Waldes im Laufe der Jahre wider. Andere rituelle Arten wie Espada-de-são-jorge und Comigo-ninguém-pode, die in den Religionen afrikanischer Herkunft eine wichtige Rolle spielen, leben ebenfalls seit langem dort. Der heutige Wald hat auch Überreste alter Obstgärten und Felder in sein Reich aufgenommen. Exotische Früchte wie Bananen, Mangos, Jambos, Jamelão und Fruta-pão (alle aus Asien stammend) findet man ungewöhnlicherweise in vermeintlich abgelegenen Bereichen des Waldes, was darauf hindeutet, dass das Gebiet früher bewirtschaftet wurde: als Obstgarten oder vielleicht als Hinterhof eines Hauses.
Der vielleicht auffälligste exotische Baum des Parks ist der Jackfruchtbaum, eine aus Südostasien stammende Art, die wahrscheinlich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in den Tijuca-Wald gelangte. Aufgrund seiner Beliebtheit als Zier- und Obstbaum wurde der Jackfruchtbaum in den verschiedenen kleinen Bauernhöfen, die sich dort niederließen, häufig angebaut. Besonders geschätzt wurde er jedoch von den afrikanischen Sklaven und Quilombolas, die ihn in ihre Ernährung aufnahmen und den Jackfruchtbaum zu einer wichtigen Begleitpflanzein ihrer Kultur machten. Heute nehmen Jackfruchtbäume einen beträchtlichen Teil der Vegetationsdecke des Waldes ein. Mehr als 9.000 von ihnen wurden in nur zwei der vier Sektoren des Parks und seiner Pufferzone identifiziert. Es ist jedoch interessant festzustellen, dass sein Vorkommen auf Gebiete beschränkt ist, die zuvor vom Menschen bewirtschaftet wurden, da 90 % der Gebiete mit Jackfruchtbäumen in der Nähe von alten Wegen, Ruinen, Kohleöfen und Waldrändern liegen. Das heißt, Jackfruchtbäume wachsen dort, wo Menschen waren (oder noch sind). Es handelt sich also um eine opportunistische Art, die sich an anthropogenen und verlassenen Standorten angesiedelt hat und als Bioindikator für vergangene Aktivitäten dient.
Da sie dabei helfen, die Geschichte des Waldes (neu) zu erzählen, können diese Spuren als echte historische Dokumente betrachtet werden. Die Beweise helfen uns, diesen Wald als eine dynamische Landschaft zu verstehen, die das Ergebnis eines langen Prozesses der Interaktion zwischen Mensch und Natur ist. Der Wald des Tijuca-Nationalparks verdeutlicht die feinen Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen Wildheit und Zivilisation, menschlich und nicht-menschlich. Es handelt sich also um einen Wald, der nicht nur Naturerbe ist, sondern auch einen immensen kulturellen Reichtum für Rio de Janeiro darstellt.
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