Digitale Kompetenzlücke führt in Lateinamerika zu strukturellen Rückstand

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Mangelnde politische Initiative ist eine der Ursachen für die zunehmende digitale Kluft in Lateinamerika (KI-generiertes Bild).
Datum: 02. September 2025
Uhrzeit: 12:38 Uhr
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Autor: Redaktion
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Lateinamerika steht vor einem Dilemma, das seinen Rückstand in der Weltwirtschaft zu vergrößern droht: Nur drei von zehn Einwohnern in Ländern wie Kolumbien, Mexiko und Kuba verfügen über grundlegende digitale Kompetenzen, gegenüber mehr als 80 Prozent in den Industrienationen. Diese Daten, die Violeta Contreras García in DPL News aus einer Studie der Fundación Carolina zusammengetragen hat, offenbaren eine Kluft, die nicht nur technologischer, sondern auch struktureller Natur ist und auf die mangelnde Verknüpfung zwischen Bildung, Produktivität und Entwicklung zurückzuführen ist. Der Bericht mit dem Titel „Kompetenzen für die digitale Wirtschaft: wirtschaftliche und soziale Auswirkungen der Ausbildung für die Gegenwart und Zukunft der Arbeit in Lateinamerika und der Karibik”, der von Víctor Muñoz, Manuel Balmaseda und Ángel Melguizo verfasst wurde, kommt zu dem Schluss, dass die digitale Transformation „sich als wesentlicher Motor für die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik etabliert hat”. Daher müsse der Erwerb digitaler Kompetenzen als „strategische Priorität angesehen werden, um Lücken zu schließen, die die Inklusion und Teilhabe (…) an der globalen Wirtschaft und am globalen Arbeitsmarkt einschränken”. Das Dokument warnt jedoch davor, dass die Region weiterhin in der sogenannten „Falle des mittleren Einkommens” gefangen ist und es nicht schafft, einen positiven Kreislauf zu schaffen, der Investitionen in Bildung mit nachhaltigem Wirtschaftswachstum verbindet.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Während im Jahr 2022 rund 91 Prozent der Haushalte in den OECD-Ländern Zugang zum Internet hatten, lag der Durchschnitt in Lateinamerika bei nur 67 Prozent. Und die Ungleichheit nimmt in Bezug auf die Hochgeschwindigkeits-Konnektivität noch zu: Weniger als 10 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung verfügen über Glasfaseranschlüsse in ihren Haushalten, was die Einführung neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz bremst. Noch gravierender ist die Lage in Ländern wie Ecuador und Peru, wo nur fünf bzw. sieben Prozent der Bevölkerung über ein Mindestmaß an digitalen Kompetenzen verfügen. Der Rückstand wirkt sich nicht nur auf das tägliche Leben aus, sondern gefährdet auch die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der Region. Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) hat darauf hingewiesen, dass digitale Kompetenzen „für die Nutzung der vorhandenen digitalen Infrastruktur und insbesondere für die soziale Inklusion unverzichtbar sind”. Ohne diese Fähigkeiten, so warnen Experten, besteht die Gefahr, dass Investitionen in die technologische Infrastruktur nicht ausreichend genutzt werden und historische Ungleichheiten reproduziert werden.

Die Studie der Fundación Carolina betont, dass der Schlüssel nicht nur in der Erweiterung des technologischen Zugangs liegt, sondern auch in Investitionen in fortgeschrittene und fachliche Kompetenzen, die es Arbeitnehmern ermöglichen, Zugang zu hochwertigeren Arbeitsplätzen zu erhalten. Die Logik ist einfach: Je stärker die Digitalisierung voranschreitet, desto mehr Anreize haben Unternehmen, ihre Mitarbeiter zu schulen, wodurch ein positiver Kreislauf mit messbaren Auswirkungen auf das BIP entsteht. Diese Investition ist laut den Autoren nicht nebensächlich, sondern eine Voraussetzung für die Transformation der Produktionsstruktur der Region. Eine der Schwierigkeiten ist das Fehlen einer gemeinsamen Taxonomie, die digitale Kompetenzen organisiert und standardisiert. Der Bericht schlägt vor, diese in drei Kategorien zu unterteilen: spezifische technische Fähigkeiten wie Programmierung, Datenanalyse und -visualisierung oder Cybersicherheit; Soft Skills, darunter kritisches Denken, Kommunikation, Teamarbeit und Verhandlungsgeschick; und allgemeine Kompetenzen, darunter digitale Kompetenz und der tägliche Umgang mit technologischen Werkzeugen.

Ohne eine solche Klassifizierung fehlt den Ländern eine gemeinsame Grundlage, um die öffentliche Politik auszurichten und die Bemühungen mit dem privaten Sektor zu koordinieren.Der Einzug der künstlichen Intelligenz sorgt für zusätzliche Komplexität. Die Studie schätzt, dass KI weltweit bis 2030 rund 13 Billionen Dollar zur Wirtschaftstätigkeit beitragen könnte. In Lateinamerika und der Karibik würde die potenzielle Auswirkung bis zu 5,4 Prozent des regionalen BIP erreichen, sofern die Lücken in Bezug auf Konnektivität und Ausbildung geschlossen werden. Aber die Technologie ist nicht ohne Risiken: Rund 84 Millionen Arbeitsplätze in der Region sind bereits von Automatisierung bedroht, und diese Zahl könnte in weniger als einem Jahrzehnt auf 114 Millionen steigen. Am stärksten gefährdet sind Branchen, in denen Routinetätigkeiten vorherrschen, wie die Leichtindustrie, der Einzelhandel oder Verwaltungsdienstleistungen. Das Dilemma ist also ein doppeltes. Einerseits bieten künstliche Intelligenz und Digitalisierung eine Chance, die Wirtschaft zu diversifizieren, die Produktivität zu verbessern und Innovationen voranzutreiben. Andererseits könnten dieselben Technologien ohne einen koordinierten Plan für Ausbildung und berufliche Anpassung die Prekarität und Ausgrenzung verstärken.

„Die Herausforderung besteht nicht nur darin, den Zugang zu Technologie zu erweitern, sondern auch die kontinuierliche Weiterbildung und berufliche Anpassung angesichts eines sich wandelnden Marktes zu gewährleisten“, schließt der Bericht der Fundación Carolina. Internationale Erfahrungen zeigen, dass Länder, die den digitalen Sprung geschafft haben, dies mit langfristigen nationalen Strategien erreicht haben. Südkorea beispielsweise hat seine Bildungspolitik mit steuerlichen Anreizen für Innovationen verknüpft und ist heute führend bei den Indikatoren für Digitalisierung und Forschung. Europa hat im Rahmen seiner Wettbewerbsagenda spezifische Mittel für technologische Fortbildungen bereitgestellt. Lateinamerika hingegen ist in der Regel auf fragmentierte Initiativen angewiesen, die weder auf regionaler Ebene skaliert werden können noch strukturelle Auswirkungen haben. Die aktuelle Lage erfordert dringendes Handeln. Die Digitalisierung ist zu einem Schlüsselelement der Weltwirtschaft geworden, und vor dem Hintergrund geopolitischer Spannungen und der Energiewende werden Länder, denen es nicht gelingt, ihre Lücken zu schließen, innerhalb der Wertschöpfungsketten in untergeordnete Positionen geraten. In diesem Sinne warnt die Studie vor der Gefahr, dass Lateinamerika darauf beschränkt bleibt, Rohstoffe zu exportieren, ohne eigene Technologiesektoren zu entwickeln.

Letztendlich ist die Herausforderung der digitalen Kompetenzen in der Region nicht nur technischer, sondern auch politischer und sozialer Natur. Sie erfordert die Koordinierung zwischen Regierungen, Unternehmen, Universitäten und multilateralen Organisationen und verlangt nachhaltige Anstrengungen, die über Wahlzyklen hinausgehen. Gelingt dies nicht, könnte das Versprechen der digitalen Transformation zu einer neuen Grenze der Ungleichheit werden und die Warnung bestätigen, dass Lateinamerika weiterhin in der Mittelklassefalle gefangen ist.

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