Polizei und Militär haben am frühen Sonntagmorgen das berüchtigtste Armenviertel Lateinamerikas besetzt: die Favela Rocinha in der brasilianischen Millionenmetropole Rio de Janeiro. Rund drei Stunden dauerte die Aktion im Kampf gegen die ansässigen Drogenbanden und das organisierte Verbrechen. Auch die beiden benachbarten Favelas Vidigal und Chácara do Céu waren Ziel der Megaoperation. Der ganze Komplex liegt zwischen den Nobelvierteln Gávea und São Conrado in unmittelbarer Nähe des weltberühmten Ipanema-Strandes im Süden der Stadt und gilt als der lukrativste Drogenumschlagplatz von Rio de Janeiro.
Überraschenderweise stießen die schwer bewaffneten Elite-Polizisten der fast schon legendären Eingreiftruppe „Bope“ auf keinerlei Widerstand. Lediglich einige Barrikaden hatte die Drogenmafia aufgeboten, auf einer steilen Zufahrtstraße wurde Öl ausgeschüttet, um den Fahrzeugen den Zugang zu verwehren. Als um sieben Uhr morgens Ortszeit der Einsatzleiter erklärte, dass die betroffenen Viertel unter Kontrolle der Sicherheitskräfte seien, war seinen Aussagen nach kein einziger Schuß abgegeben worden.
Die dort ansässigen Drogenbanden hatten anscheinend schon Tage zuvor das Weite gesucht. Denn die „Besetzung“ der Armenviertel, in denen geschätzte 150.000 Menschen leben, war frühzeitig angekündigt worden. Nach der Verhaftung des unter dem Spitznamen „Nem“ bekannten Drogenbosses Antônio Bonfim Lopes am vergangenen Donnerstag hatte die Stadtverwaltung von Rio de Janeiro bei Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff militärische Hilfe angefordert, die dann mit 18 Panzern und 200 Soldaten auch umgehend gewährt wurde.
Diese positionierten sich bereits am Samstag an den Zufahrtsstraßen, kurz nach Mitternacht wurde dann der Komplex hermetisch abgeriegelt. Wer hinein oder hinaus wollte, hatte sich schon zuvor umfangreichen Kontrollen zu unterziehen. Viele Bewohner zogen es allerdings vor, sich frühzeitig in ihren Häusern zu verbarrikadieren. In den Supermärkten der Favela waren in den vergangenen Tagen massive Hamsterkäufe registriert worden, zahlreiche Menschen zeigten sich extrem besorgt über die möglichen tagelangen Häuserkämpfe zwischen Polizei und Drogenmafia.
Doch als am Sonntagmorgen um vier Uhr Morgens die ersten Panzer einfuhren, blieb überraschend alles ruhig. Straße um Straße rückten dann zunächst rund 700 Einsatzkräfte in den engen Gassen vor und durchsuchten Haus für Haus. Unterstützt wurden sie dabei von tieffliegenden Hubschraubern. Bis zum Vormittag konnten nach Polizeiangaben über ein Dutzend Schnellfeuergewehre sowie Pistolen und ein Maschinengewehr sichergestellt werden. Auch mehrere Haftbefehle sollen vollstreckt worden sein. Von den meisten Kriminellen – Experten gingen von bis zu 200 Angehörigen der örtlichen Drogenmafia aus – fehlte jedoch jegliche Spur.
Entgegen vieler Befürchtungen sind Polizei und Militär bei ihrem Vorstoß äusserst besonnen vorgegangen. Zahlreiche Anwohner hatten die vorrückenden Truppen mit weissen Laken an ihren Häusern zu einer friedlichen Besetzung und zu Gewaltverzicht aufgefordert. Allen Anschein nach kamen Militärpolizei und Spezialeinheiten diesem Wunsch nach. „Sie waren sehr höflich und haben erstmal einen ‚guten Morgen‘ gewünscht“ bestätigt auch der Österreicher Andreas W., der in der Favela Vigidal ein Hostel betreibt. Die Eingreiftruppe „Bope“ war gleich mit 15 Mann in sein Objekt gekommen, um nach Verbrechern, Waffen und Drogen zu suchen. Nach einer kurzen Durchsuchung zogen sie zur Erleichterung der Anwesenden wieder ab.
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