Venezolanischer Herbst

chav

Datum: 10. Dezember 2011
Uhrzeit: 14:37 Uhr
Ressorts: Leserberichte
Leserecho: 1 Kommentar
Autor: Martin Bauer, Caracas (Leser)
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Alles scheint normal, in Venezuela. „Normal“ im Sinne dessen, was knapp 13 Jahre Chavismus zur Normalität hat verkommen lassen. Die Menschen gehen ihren gewohnten Verrichtungen nach. Arbeiten, feiern, lieben und streiten sich. Und doch ist etwas anders.

Vor einer Woche noch waren die Venezolaner gespalten in solche, die an die Krankheit des Präsidenten glaubten oder – makaber genug – sogar ihre Hoffnungen darauf setzten und jene, die sie für einen Propaganda Trick hielten oder den bolivarischen Führer für unverwundbar wähnten. Heute ist das alles vergessen. Das Gerücht über einen Gehirnschlag oder Schlaganfall des Präsidenten kennt inzwischen jeder. Und es beschäftigt jeden, auch wenn man es sich nicht anmerken lassen will. Man weiß nichts Genaues. Nicht mal, ob er bei Bewusstsein ist oder überhaupt noch lebt. Die Regierung schweigt sich dazu aus. Also schweigt man besser auch dazu, weiß man doch nie, auf welcher Seite der Andere wirklich steht. Am Ende der Ära Chávez aber zweifelt keiner mehr.

Die vergangen Nacht war ruhig. In den Lokalen traf man viel weniger Menschen als an einem Freitag vor Weihnachten üblich. Vor allem ein bestimmter Typus fehlte, die für gewöhnlich viel zu laut und großspurig auftretenden Chavista mit Porsche, BMW oder Hummer vor der Tür. Alle wie vom Erdboden verschluckt.

Angst geht um. Angst vor Unruhen, wenn nicht sogar einem Bürgerkrieg. Jemand sagte mir gestern Abend, er wolle Lebensmittel Vorräte kaufen und für einen Monat das Haus nicht mehr verlassen, sobald das Ende von Chávez offiziell wäre. Andere fühlen Panik. Sie haben Geschäfte mit der Regierung am Laufen, die bei einem Regierungswechsel mit einem Schlag Null und Nichtig würden. Und keiner, nicht ein einziger, kann sich ein politisches Überleben der PSUV ohne Hugo Chávez vorstellen. Ohne den jetzigen Präsidenten wäre der Spuk des Sozialismus in Venezuela schlagartig vorbei und bliebe nur als böser Traum in Erinnerung. Doch die Alternativen sind wenig ermutigend.

Aber auch Hoffnung spiegelt sich in den Gesichtern. Hoffnung auf freieres Atmen, auf die Rückkehr von Recht auf freie Meinungsäußerung, auf freie Ausübung des Berufes, Recht auf Eigentum und so vieles, was den Venezolanern in den zurückliegenden Jahren Stück für Stück abhandenkam. Von heute auf morgen liegt eine Stimmung in der Luft, wie ich sie nur einmal zuvor erlebt habe. Das war im Herbst 1990 bei einem Besuch in Eisenach, wenige Tage vor der Wiedervereinigung Deutschlands.

Das Schicksal des Militär-Putschisten von 1992 ist zum Schicksal Venezuelas geworden. Was hätte dieser Mann seinem Land geben können, mit dem unermesslichem Ölreichtum im Rücken und der Fülle von Macht, mit der er sich selber ausstattete, mit seiner Tatkraft, seinen Visionen und seiner Obsession, sich selber, Hand in Hand mit dem Geiste Simon Bolivars, berufen zu fühlen, ein neues Venezuela, ja, ein neues Latein Amerika zu schaffen. Über ein Jahrzehnt lang hat er das Land beraubt, unterjocht und dem Volk fast alles genommen, was es einmal war und hatte. Nun ist er am Ende seines Weges angekommen. Wie es scheint, ringt er mit dem Tode, und nicht einen einzigen Menschen sah ich traurig, besorgt oder mitfühlend. Eine verächtliche Handbewegung, wenn sein Name fällt, die besagen soll: „Weg mit ihm! Gut, wenn es vorbei ist!“. – Ich kann nicht sagen, dass mich das erfreut. Im Gegenteil, es stimmt mich traurig.

Wie es allerdings scheint, geht es H.C. deutlich besser als befürchtet. So zeigte er sich heute im Theatro Municipal de Caracas, um den Gerüchten um seine Gesundheit entgegen zu treten. Wesentlch glücklicher wäre gewesen, wenn seine Regierung von Anfang an das Volk ehrlich informiert hätte, anstatt durch eine Abwechslung von Schweigen und Lügen den wildesten Spekulationen Vorschub zu leisten. Die Verunsicherung, die damit in beiden Lagern angerichtet wird, dient keiner Seite.

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  1. 1
    peterweber

    Ich denke es geht den meisten Venezolanern so wie mir, indem ich ganz einfach müde bin, auf die Situation im Land aufmerksam zu machen.
    Müde die lÜgengeschichten zu hören.

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