Neulich erfuhr ich in einem Gespräch mit dem Kölner Juden Henry Gruen, der 1939 mit einem Kindertransport seine Heimat verlassen konnte und so als einziger seiner Familie überlebte, dass Fußball für ihn damals die einzige Möglichkeit war, seine Wut herauszulassen. Er hat sich mit seinen jüdischen Freunden nie über die wachsende Ablehnung und Gewalt unterhalten. Sie haben einfach Fussball gespielt. Bis zur völlig Erschöpfung. Manchmal auch extrem brutal.
Die vom medizinischen Aspekt interessantesten Wunden in den Elendsvierteln der bolivianischen Millionenstadt El Alto sind tiefe Schnittwunden im Unterarm. Einige von den Jungs, die in Banden durch das Stadtviertel ziehen, hatten sich im Rahmen eines Wettbewerbes die schreckliche Mutprobe gestellt, so tief wie möglich in den eigenen Arm zu schneiden. Sie würden mir die Wunden niemals freiwillig zeigen. Man kann diese furchtbaren Verletzungen nur behandeln, wenn man den Fußball herausholt. Dann kommen sie zu mir und wollen alles über die deutsche Bundesliga wissen. Man scherzt mit ihnen, fragt, welcher der beiden bekanntesten Fußballmannschaften sie die ewige Treue geschworen haben. Erst dann zeigen sie die verstümmelten Arme. Und es ist unglaublich heiß, trocken und staubig. Die Jungs sind kaum älter als 14 Jahre.
Es ist schwer herauszufinden, wie alt sie wirklich sind. Sie selbst wissen es nicht (oder sie sagen es nicht). Keine Adresse, keine Ausweise, keine Eltern. Einmal kam eine ganze Familie zu uns. Sechs Kinder. Nur eben ohne Eltern. Sie hatten sie von einem Tag auf den anderen im Stich gelassen.
Den Kleinen will man natürlich sofort helfen. Doch es kommen immer mehr Erwachsene, die ebenfalls Hilfe benötigen. Einige sehen zum ersten Mal in ihren Leben einen Arzt. Ich selbst bin Krankenpfleger und unterstütze die Kinderärztin oder den Zahnarzt bei der Arbeit. Zähne können wir direkt vor Ort ziehen. Es spricht sich wie ein Lauffeuer im Viertel herum. Jeder der zu uns kommt, wird gefragt, welche der beiden Fußballmannschaft er gut findet. Draußen wird wild gekickt. In der Schlange warten die Mütter mit ihren Kindern. Alle kennen Lothar Matthäus, Ramstein und Hitler. Ich müsse der beste Fußballer vor Ort sein. Schließlich komme ich aus Deutschland. Beim Spiel blamiere ich mich völlig.
Wir schaffen bis zu zwei Kinder in zehn Minuten. Eine wirkliche Anamnese gibt es nicht. Man guckt sie sich schnell an und verteilt dann doch immer die gleichen Medikamente: Gegen Gastritis, gegen Lungenentzündung, gegen Würmer.
Die tiefe Schnitt im Arm benötigt Zeit, sehr viel Zeit. Und dann nähe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Wunde, oder verabreiche intramuskuläre Injektionen. Die Kinder werden gewogen und die Namen notiert. Es gibt ein Heim für junge Mütter mit ihren Kindern. Dort könnten sie auch eine Ausbildung machen. Viele von ihnen leiden unter der Gewalt ihrer Männer. Alkoholismus ist ein gravierendes Problem. Selbst 16 jährige zeigen schon Anzeichen einer beginnenden Leberzirrhose. Die Frauen haben blaue Flecken.
Geplant ist, die Menschen darüber zu informieren, dass wir ab jetzt an einem bestimmten Tag in der Woche wiederkommen. Aber viele der Straßenkinder sehen wir niemals wieder. Sie haben keine Mütter, die sie zur Ambulanz bringen. Sie wandern weiter, verstecken sich oder sterben. Ich habe kein einziges Mal erlebt, wie eine Mutter sich bereit erklärte, mit ihren Kindern diesen Ort zu verlassen. Wir kommen trotzdem wieder. Zum Fußballspielen.
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