Die Einschätzung, ob eine konkrete Person als politischer Gefangener einzustufen ist, ist häufig umstritten und variiert je nach politischem Standpunkt. Aus westlich-demokratischer Sicht werden in der Regel solche Häftlinge als politische Gefangene begriffen, die wegen ihrer Opposition gegen ein diktatorisches Regime inhaftiert sind (Dissidenten). Nach Meinung von Menschenrechtsorganisationen sitzen in Lateinamerika besonders in Venezuela und Kuba Hunderte Menschen wegen ihrer politischen oder weltanschaulichen Ansichten in Haft.
Was ist ein „politischer Gefangener“ – und was nicht? Der Europarat hat am 3. Oktober 2012 eine Definition angenommen – ein bisher einmaliger und wegweisender Vorgang. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) sprach mit dem Initiator dieser Definition, MdB Christoph Strässer, und bat ihn um eine Zusammenfassung und Erläuterung.
Christoph Strässer ist Bundestagsabgeordneter und Sprecher für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der SPD-Bundestagsfraktion. Als Vertreter des Bundestages in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ist er u.a. Berichterstatter für „Politische Gefangene“ und für politische Gefangene in Aserbaidschan. Im Jahr 2001 leitete er zusammen mit einer Gruppe unabhängiger Experten für den Europarat eine Definition des Begriffs „politischer Gefangener“ in die Wege.
Herr Strässer, Sie haben mit sehr viel Einsatz und noch mehr Ausdauer eine „Definition von politischen Gefangenen“ auf den Weg gebracht, der am 3. Oktober 2012 vom Europarat in Straßburg angenommen wurde. Können Sie knapp und prägnant zusammenfassen: Was ist ein politischer Gefangener?
Ein politischer Gefangener ist eine Person, die wegen ihrer politischen Einstellung und politischen Aktivitäten in Haft ist. Doch eine solche kurze Definition würde der komplexen Frage nicht gerecht werden. Es ging ja gerade darum, eine möglichst konkrete Definition zu finden. Deshalb muss ich weiter ausholen und die Definition etwas ausführlicher darstellen.
Ein Gefangener ist ein politischer Gefangener, wenn dessen Verhaftung und Verurteilung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und deren grundlegende Garantien, insbesondere die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Meinungs- und Informationsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verstößt; wenn die Verhaftung aus rein politischen Gründen ohne Zusammenhang mit einer Straftat erfolgte; wenn die Länge der Haft oder die Haftbedingungen aus politischen Gründen eindeutig nicht im Verhältnis zu der Straftat stehen; wenn die Person aus politischen Gründen auf diskriminierende Art und Weise im Vergleich zu anderen Personen inhaftiert wird oder wenn die Inhaftierung das Ergebnis von Verfahren ist, die eindeutig unfair waren und dies im Zusammenhang mit politischen Gründen der Regierung zu stehen scheint. Personen, die Gewalt anwenden oder zur Gewalt aufrufen, können nicht für sich in Anspruch nehmen, „politische Gefangene“ zu sein, selbst wenn sie angeben, aus „politischen“ Gründen gehandelt zu haben. Für diese Regel gibt es wiederum Ausnahmen. Eine Person kann auch dann ein politischer Gefangener sein, wenn es seitens der Behörden ein politisches Motiv dafür gab, die betroffene Person einzusperren und wenn das Urteil völlig unverhältnismäßig zur Straftat bzw. das Verfahren eindeutig unfair war.
Intuitiv hat jeder eine Vorstellung davon, was ein politischer Gefangener ist. Warum ist diese Definition so wichtig?
Jede Definition enthält Elemente, die eine Evaluierung oder Beurteilung von Fakten erfordern, und somit einige subjektive Elemente. Definitionen und Kriterien bleiben daher Instrumente, die von Menschen angewandt werden müssen. Es gibt keinen Automatismus. Und trotzdem ist es wichtig, dass es eine „möglichst objektive“ Definition gibt, an der sich Institutionen und Organisationen international orientieren können, damit wir einheitliche Standards etablieren. Es mag eine intuitive Vorstellung davon geben, was ein politischer Gefangener ist. Aber ohne Definition machen wir es denen leicht, die sich um eine Klärung und Aufklärung dieser Fragen winden, setzen uns dem Vorwurf aus, dass wir Doppelstandards dulden und verhindern eine grundlegende Evaluierung dieser Problematik.
Mit Verabschiedung des Berichts kann nun der Europarat noch eindringlicher alle Mitgliedstaaten des Europarates dazu ersuchen, die Fälle mutmaßlicher politischer Gefangener unter Anwendung der oben genannten Kriterien erneut zu beurteilen und diese Gefangenen freizulassen oder erneut vor Gericht zu stellen.
Ist die jetzt für die 47 Mitgliedsstaaten des Europarates verbindliche Definition noch nahe an Ihrer ursprünglichen Textfassung oder hat es deutliche Kompromisse und Raum für Schlupflöcher gegeben?
Der Begriff „politischer Gefangener“ wurde 2001 im Europarat von unabhängigen Experten im Auftrag des Generalsekretärs erarbeitet. Deren Auftrag war es, Fälle von mutmaßlichen politischen Gefangenen in Armenien und Aserbaidschan im Kontext des Beitritts beider Staaten zu der Organisation zu beurteilen. Weitere Expertenanhörungen, die ich durchgeführt habe, haben unsere Position unterstrichen. Die Definition – wie sie verabschiedet wurde – ist in etwa noch die Definition, wie sie erarbeitet wurde. In der Zwischenzeit wurden aber viele Versuche unternommen, ein Zustandekommen zu blockieren.
Als Kompromiss haben wir ausdrücklich in den Resolutionstext aufgenommen, dass Terroristen keine politischen Gefangenen sind. Darauf haben Länder wie z.B. Spanien aufgrund der ETA-Problematik bestanden. Wir müssen aber sicher gehen, dass mit dem Terrorismusvorwurf Staaten die Definition nicht willkürlich aushebeln können und die Europäische Menschenrechtskonvention beachtet wird.
Sie hatten gegen erhebliche Schwierigkeiten zu kämpfen. Was waren die Haupteinwände und Hintergründe?
Während meines Mandats wurden mehrere Versuche auf Ausschussebene unternommen, das Thema der Definition des Begriffs „politischer Gefangener“ erneut anzugehen. Immer und immer wieder sollte eine neue Definition erarbeitet werden. Doch derartige Versuche, „das Rad neu zu erfinden“, lenken lediglich von der Aufgabe des Europarates ab, das Problem der politischen Gefangenen langfristig zu lösen. Es ging nur vordergründig um Definitionsfragen, hintergründig ging es darum, den Bericht abzusetzen, zu blockieren oder zu verwässern. In der abschließenden Ausschusssitzung und Schlussabstimmung wurde der Antrag gestellt, dass nur noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich mit den Fragen der politischen Gefangenen beschäftigen dürfe. Das wäre der Entmachtung der Parlamentarischen Versammlung gleichgekommen und hätte sie einer ihrer Kernaufgaben beraubt. Nicht jedem wäre das ungelegen gekommen. Der Gegenwind aus einigen Ländern war nicht zu übersehen.
Halten Sie eine ähnliche Definition auf der Ebene der Vereinten Nationen für möglich?
Die unabhängigen Experten stützten einen Teil ihrer Arbeit auf die Studien von Professor Carl Aage Nørgaard, dem damaligen Präsidenten der Europäischen Menschenrechtskommission, der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gebeten worden war, den Begriff des „politischen Gefangenen“ in Namibia 1989/90 zu bestimmen. Weiter wurden die Erfahrungen vom Kollegen Trechsel aus seinem Mandat über mutmaßliche politische Gefangene in Armenien und Aserbaidschan verarbeitet. Alle Überlegungen wurden mit der Europäischen Menschenrechtskonvention abgeglichen. Insofern handelt es sich zunächst einmal um eine Definition, die nur unter den Mitgliedern des Europarates gilt. Jetzt geht es darum, dass wir sie in der Praxis anwenden. Sie sehen auch, dass internationale Erfahrungen berücksichtigt wurden. Andere internationale Organisationen können die Definition der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sicherlich als Diskussionsgrundlage für eigene Definitionen nutzen. Eine weltweite Debatte wäre sicherlich wünschenswert, da es sich um eine weltweite Problematik handelt. Sicherlich würde vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Standpunkte – um es neutral zu formulieren – eine Einigung nicht einfach werden.
Die Fragen für die IGFM stellte Max Klingberg am 23. Januar 2013
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