„Samba tanzt der Fußballgott“ als Aneinanderreihung von einem halben Dutzend Biografien zu bezeichnen, wäre eine ungerechte Beschreibung des Anfang November erscheinenden Sachbuchs von Mirco Drewes. Leider muss man das gut 300 Seiten starke jedoch überraschend kurzweilige Werk in zwei Bereiche unterteilen: in die Lebensläufe prominenter brasilianischer Fußballspieler und die teilweise in bekannten Klischees ertrinkenden Schlussfolgerungen. Für einen Fan des viel gerühmten „jogo bonito“ ist das Buch jedoch absolute Pflichtlektüre.
Pelé und das Triple-R Romário, Ronaldo und Ronaldinho kennt ein jedes Kind, doch wie sieht es mit eher vergessenen Legenden wie Fried, Leônidas oder Garrincha aus? Hier kann der Leser noch einiges Unterhaltsames aus den Anfänger der brasilianischen Fußball-Kultur erfahren. Er kann Eintauchen in eine Zeit nur Jahrzehnte nach Abschaffung der Sklaverei, wo „das Land der Zukunft“ – um einmal mehr Stefan Zweig zu zitieren – noch in Schwarz und Weiß katalogisiert und damit der Rassismus allgegenwärtig war. Und wo gerade der Terminus „Pardo“ (das brasilianische Synonym für „Mulatte“ oder „Mestize“) stets Anlass für Diskussionen gab. Noch heute – mehr als ein Jahrhundert später – findet dieser Begriff bei Volkszählungen Anwendung, in diese Gruppe einordnen darf sich jedoch nur noch der Betroffene selbst.
Und so ist die Bevölkerung in Brasilien laut den Statistikern immer eine Spur heller als die Wirklichkeit. Fußballprofis eingeschlossen. Unter den Klassifizierungen hatten sie zu Beginn natürlich genauso zu leiden wie die nicht so talentierte Bevölkerung. In den ersten Jahrzehnten nach Einführung des runden Leders in Brasilien – auch darauf geht das Buch ein – durften dunkelhäutige Spieler gar keine Profis sein. Als dies schließlich vom Tisch war, kämpften die Legenden der Seleção eben gegen Politik oder Alkohol- und Sexsucht. Skandale gibt es in der Historie des brasilianischen Fußballs zu Genüge – Genie und Wahnsinn, wie es der Untertitel verspricht, liegen dabei selbstredend nahe beisammen. Und doch gelingt es Drewes ohne Probleme, die zahlreiche Facetten rund um das Ballgeschehen so zu strukturieren, dass das Lesen keinesfalls langweilig wird. Über manches hätte man allerdings durchaus mit ein stärkeren Augenzwinkern berichten können, denn nicht jedes bediente und teilweise trocken aufbereitete Klischee dürfte auch vollständig der Wahrheit entsprechen.
Und damit muss man auch ohne den bestimmenden Pfiff eines Schiedsrichters auf die Schwächen des Buches zu sprechen kommen. Diese liegen zweifellos in der Einführung und der vermutlich unter Zeitdruck entstandenen Konklusion der jüngsten Ereignisse – sprich der massiven Demonstrationen rund um die Stadien während des Confed-Cups. Dort in den Schlussbemerkungen lässt sich der Autor teilweise von den stereotypen Schlussfolgerungen europäischer Massenmedien verleiten und schreibt so an der Realität größtenteils vorbei. Auf Nachfrage bestätigt Drewes dann auch, Brasilien nicht aus eigener Erfahrung zu kennen. So kann er, der sich selbst „als Erzähler einer Geschichte, als kreativer Chronist des brasilianischen Fußballs und als kritischer Botschafter des Fußballspiels“ versteht, logischerweise weder persönliche Erlebnisse noch eine wirklichkeitsnahe Beschreibung des ganz eigenen Flairs einer beispielsweise im vollbesetzten Maracanã von Rio de Janeiro ausgetragenen Begegnung beisteuern.
Das Buch bedient daher auch leider ein paar Mal zu oft die Vorstellungen der alten Welt über den brasilianischen Fußball, exemplarisch aufgezogen anhand der Biografien von rund einem halben Dutzend Protagonisten und deren größten Erfolge oder Tragödien. Die Antwort, warum der brasilianische Fußball so einzigartig ist, kann aber auch der Autor – wie so viele vor ihm – nicht liefern. Dafür muss man tiefer in das brasilianische Lebensgefühl eintauchen, jenseits von Arm und Reich, Hell und Dunkel, Schwarz und Weiß. Und man muss die Verbindungen von Sport und Kultur im Leben der Menschen begriffen haben, von Arbeit und Freizeit, von Leid und Vergnügen. Von Deutschland aus ist dies eine unlösbare Aufgabe. Das Buch versucht zwar, in den einführenden Kapiteln dem Leser einen kleinen Einblick zu verschaffen, gelingen will es aus vorgenannten Gründen jedoch nicht so ganz. Der Fußball in Brasilien hätte es allerdings verdient.
Und doch ist „Samba tanzt der Fußballgott“ eine wirklich tolle Einstimmung auf die kommende Fußball-WM 2014 im Land des fünffachen Weltmeisters. Insbesondere der Rückblick auf wichtige historische WM-Spiele der kanariengelben Auswahl wie das denkwürdige „Finale 1950“ im Maracanã lässt die Zeit bis zum Anpfiff am 12. Juni 2014 in São Paulo noch länger werden als sie eh schon ist. Und die Vorfreude weiter steigen.
Bleibt nur noch die im Buch nicht abgehandelte Frage übrig, ob es nun wirklich Samba-Fußball oder doch wie oft behauptet Fußball-Samba heißt. Natürlich existiert in Brasilien beides – wird aber gerade in mitteleuropäischen Breiten gerne mal von Journalisten verwechselt oder für ein und dasselbe gehalten. Dabei kommt es nur auf den Blickwinkel an. Das übrigens wäre ebenfalls Stoff für ein tolles Buch – man benötigt dafür allerdings die Chupze, sich mindestens einmal leibhaftig in einen brasilianischen Hexenkessel wie das Maracanã zu stürzen. Dafür bietet sich die WM 2014 doch an, oder?
„Samba tanzt der Fußballgott“ von Mirco Drewes erscheint offiziell am 06. November 2013 für 12,90 Euro im Vergangenheitsverlag (ISBN: 978-3-86408-158-3).
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