Der Nordosten gilt als Armenhaus Brasiliens und ist mit seinen neun Bundesstaaten rund viermal so groß wie Deutschland. Zwei von drei Familien leben unterhalb des Existenzminimums. Hunger, beschämende Armut, Klientelismus, Rückständigkeit, eine unwirtliche Natur und vor allem die Konzentration des Landes in den Händen weniger machen das Leben für Millionen Menschen menschenunwürdig. Das Einkommen liegt im Nordosten um 40 Prozent unter dem im Süden Brasiliens, die Lebenserwartung liegt bei nur 52 und 121 von 1.000 Kindern sterben, bevor sie das sechste Lebensjahr erreicht haben. Wie im Nachbarland Venezuela hat die Bevölkerung einst von den Sozial-Programmen der Regierung profitiert und dies auch regelmäßig an den Wahlurnen zum Ausdruck gebracht. Für Ex-Präsident Lula und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff votierten in der Vergangenheit bis zu 70 Prozent der Wahlberechtigten – die Zeiten gehören der Vergangenheit an.
Die noch größte Volkswirtschaft Lateinamerikas hat jahrelang von einem positiven Zahlungsbilanzschock profitiert und dabei vergessen, sich mit den negativen Konsequenzen der demografischen Trends auseinandersetzen. Das Wirtschaftswachstum konnte nicht auf dem Niveau der vergangenen zehn Jahre gehalten werden und rutschte tief in die Rezession. Fallende Rohstoffpreise und eine Abschwächung der Kapitalzuflüsse haben zu einem Schock geführt, eine anhaltende finanzielle Instabilität ist absehbar. All dies hätten die Menschen in der „Região Nordeste“ der Regierung noch verziehen, nicht jedoch die Verwicklung in den größten Korruptionsskandal in der Geschichte des Landes. „Diese Regierung hat uns betrogen und sämtliche Versprechen gebrochen. Dilma muss weg, Brasilien darf nicht länger gelähmt bleiben. Hätten wir bei der Präsidentenwahl von dem Korruptionsgeflecht rund um Dilma und Lula gewusst, hätten wir niemals unsere Stimme für die Regierungspartei abgegeben“, klagt Claudio Pinheiro aus São Luís in einem Gespräch mit Agência latinapress.
Als Reaktion darauf hat die Region Nordosten am Sonntag (13.) die größten Proteste gegen die Regierung in der Geschichte erlebt. Demonstrationen in Metropolen wie Recife (PE), Fortaleza (CE) Salvador (BA), Belém (Pará) und São Luís (Maranhão) erreichten Rekordteilnehmerzahlen und lagen weit über denen des Jahres 2015. Gleichzeitig wurden damit die Propagandaphrasen des linken/kommunistischen Mainstreams widerlegt, der vom über 10.000 Kilometer entfernten Ausland gerne „analysiert“ systembedingt von Protesten der „Reichen“ und der „begüterten Mittelschicht“ spricht.
Die Hauptstadt von Pernambuco war die Stadt mit der höchsten Beteiligung. Nach Angaben der Militärpolizei protestierten auf den Straßen von Recife mehr als 120.000 Menschen gegen die aktuelle Regierung und damit acht Mal mehr als zu Beginn der ersten Proteste gegen Präsidentin Dilma Rousseff am 15. März vergangenen Jahres. Auf Anfrage bestätigten die Behörden, dass sich in Fortaleza mehr als 35.000 Demonstranten am „Praia de Iracema“ versammelten – mehr als das doppelte zum Vorjahr. In Maceio im Bundesstaat Alagoas waren 25.000 Demonstranten auf den Beinen, vor einem Jahr etwa 10.000. Zwanzigtausend Menschen versammelten sich in Salvador, die größte Demonstration gegen die Bundesregierung in Bahia seit Beginn der Proteste. In Natal versammelten sich innerhalb zweieinhalb Stunden mehr als 20.000 Menschen, im Vorjahr keine 10.000.
Laut Carlos Pereira, Politikwissenschaftler und Professor an der FGV in Rio de Janeiro, ist der Anstieg der Demonstrationen im Nordosten auch wirtschaftlicher Natur. Dieser Teil von Brasilien hat in der Vergangenheit sehr vom Wirtschaftsboom profitiert. Jetzt, mit steigender Arbeitslosigkeit und hohen Lebensmittelkosten, gibt es bei der nordöstlichen Bevölkerung keine Unterstützung mehr für die Regierungspolitik. In der Region hat eine ideologische Neuausrichtung stattgefunden, die aktuelle Regierung wird nur noch als Belastung empfunden. „In seiner Verzweiflung ist das Land geeint. Die These, dass Brasilien eine gespaltene Bevölkerung hat, gehört längst der Vergangenheit an“, analysiert Pereira.
Gut dem Dinge!