Das letzte Mal als Olga Weisfeiler mit ihrem Bruder Boris sprach war Ende 1984 – kurz bevor er für einen Wanderurlaub nach Chile flog. Der 43-jährige russischstämmige US-Mathematiker wollte dem Schnee-Chaos in Pennsylvania entfliehen, im Süden des Staates im Südwesten Südamerikas herrschte zu diesem Zeitpunkt Sommer. Einige Tage später war Boris mit einem Rucksack auf dem Rücken in den Ausläufern der Anden im Süden Chiles unterwegs und kehrte nie mehr nach Hause zurück. Im Januar 1985 wurde sein Rucksack an einem Flussufer geborgen, seine Leiche nie gefunden. Eine im selben Jahr durchgeführte Untersuchung der chilenischen Behörden ergab, dass der erfahrene Touren – Wanderer bei der Überquerung des Flusses ertrunken sein soll. In den USA tauchten im Jahr 2000 Dokumente auf, nach denen Boris ein anderes und finsteres Schicksal erlitten haben könnte.
In den Dokumenten wird ein Zeuge zitiert, der zu diesem Zeitpunkt Angehöriger einer chilenischen Armeepatrouille war. Nach dessen Worten wurde der Outdoor-Aktivist (er verließ die Sowjetunion über Sibirien zu Fuß) von den Militärs aufgegriffen und auf ein befestigtes Siedlungsareal der Colonia Dignidad gebracht (seit 1988 Villa Baviera/Dorf Bayern)). Die „Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad“ (Wohltätigkeits- und Bildungsgemeinschaft Würde) wurde von einer auslandsdeutschen, totalitären religiösen Gemeinschaft bewohnt und wurde unter anderem durch die während der Pinochet-Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen weltweit bekannt. Laut dem Zeugen wurde Weisfeiler im Lager verhört, bevor er kniend auf dem Boden mit einem Schuss in den Nacken getötet wurde.
Obwohl die Behauptung nie bewiesen wurde, führten die Anschuldigungen zu neuen Untersuchungen. Im Jahr 2012 beschuldigte ein chilenischer Richter sieben ehemalige Polizei- und Militäroffiziere der Entführung von Weisfeiler, ein achter Mann wurde als Komplize des Verbrechens bezeichnet. Die Familie des Verschollenen hoffte endlich auf Gerechtigkeit – und wurde bitter enttäuscht. Vor einen Monat wurde der Fall geschlossen. In der Begründung wies das Gericht unter anderem darauf hin, dass von einem Entführungsfall ausgegangen wird und der Professor das Opfer eines gemeinsam begangenen Verbrechens wurde – der Fall allerdings verjährt sei.
„Ich bin am Boden zerstört. Ich habe die letzten 16 Jahre damit verbracht, um herauszufinden, was mit Boris passiert ist – und jetzt das!“, so die inzwischen 72-jährige Schwester Olga in einem Interview mit „BBC“ in Santiago de Chile. Die US-Botschaft in Chile bezeichnete die Entscheidung als „frustrierenden Rückschlag“ und bekräftigte, dass die Opfer von Menschenrechtsverletzungen und deren Familienmitglieder Gerechtigkeit erfahren müssen – unabhängig davon, wann die Tat begangen wurde.
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