Diejenigen, die Santiago de Chile Anfang 2015 besucht haben und dieses Jahr wiederkommen, werden feststellen, dass sich die menschliche Landschaft verändert hat. Die relative Rassenhomogenität der Bevölkerung wurde durch Peruaner, Kolumbianer, Venezolaner, Bolivianer, Ecuadorianer und Dominikaner bereichert. Das sichtbarste allerdings ist die Anwesenheit von Haitianern. Sie sprechen kein Spanisch, sind von sehr dunkler Hautfarbe und Hunderttausende von ihnen kamen letztes Jahr an. Für ein Land, in dem bis vor kurzem viele Menschen ohne Ironie gesagt haben: „Wir sind hier keine Rassisten, weil es keine Schwarzen gibt“, hat sich die Realität sichtich verändert.
Dass die südamerikanische Nation ein Magnet für Einwanderer aus anderen lateinamerikanischen und karibischen Ländern geworden ist, ist ein weiterer Beweis für den wirtschaftlichen Erfolg Chiles in den letzten Jahrzehnten. Mit einem Einkommen von mehr als 20.000 US-Dollar pro Person und Jahr (in Kaufkraftparität) ist es heute das reichste Land der Region. Auch die Arbeitslosenquote ist mit 6,5% relativ niedrig. Die Geburtenraten sinken und die Bevölkerung altert, was darauf hindeutet, dass das Land dringend importierte Arbeitskräfte benötigt. Darüber hinaus besteht bereits ein Mangel an Fachkräften im Gesundheits- und Technologiesektor sowie ein spürbarer Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften.
Chile sollte nach Meinung von Experten Einwanderer aufnehmen und das tut es bisher auch. Die derzeitige Einwanderungspolitik erlaubt es Personen aus Lateinamerika und der Karibik, ohne Visum in ihrem Reisepass einzureisen. Nachdem sie bei ihrer Ankunft erklärt haben, dass sie Touristen sind, erhalten sie ein 90-Tage-Visum und, sobald sie sich auf chilenischem Territorium befinden, eine befristete Arbeitserlaubnis. Diese Praxis wird sich allerdings in naher Zukunft ändern.
Zwischen 2007 und 2015 stieg die Zahl der Einwanderer in Chile um 143%, die dritthöchste Zuwachsrate unter den OECD-Ländern, einer Organisation, die Volkswirtschaften mit hohem und mittlerem Einkommen vereint. Die Zahl der Einwanderer hat sich in den letzten zwei Jahren erneut verdoppelt und erreicht heute rund eine Million Menschen, von denen schätzungsweise ein Drittel illegal im Land leben. Die Einwanderungsexplosion kam mit der Kraft eines Tsunami und die Chilenen haben begonnen, sich wie die Wähler von Marine Le Pen oder diejenigen zu verhalten, die Donald Trump in den Vereinigten Staaten gewählt haben. Eine aktuelle Umfrage des Nationalen Instituts für Menschenrechte hat ergeben, dass sieben von zehn Chilenen der Einreise von Ausländern zustimmen; fast die Hälfte glaubt allerdings, dass Einwanderer den Einheimischen Arbeitsplätze wegnehmen und 30% der Chilenen sagen, sie seien weißer als Menschen aus anderen lateinamerikanischen Ländern.
Die neue Regierung von Sebastián Piñera ist mit einer neuen, restriktiveren Einwanderungspolitik angekommen. Unter seinen ersten Amsthandlungen kündigte der Präsident an, dass diejenigen, die als Touristen einreisen, keine befristete Arbeitserlaubnis mehr beantragen können. Touristen können keine Arbeit suchen und wer arbeiten will, muss vor der Einreise ein neues Visa de „Oportunidades“ beantragen. Diese Visa werden nach einem Punktesystem erteilt, das die am besten ausgebildeten und geschulten Personen begünstigt. Es wird ein bevorzugtes Visum für ausländische Absolventen der 200 besten Universitäten der Welt geben. Diese Maßnahmen schließen einige der bisher extrem offenen chilenischen Türen, helfen aber bei der Planung der Einwanderungsströme und werden Angebot und Nachfrage der Einwanderer besser aufeinander abstimmen. Die gegenwärtige chilenische Politik geht auf das Jahr 1975 zurück und agiert damit in Zeiten, in denen es fast keine Einwanderung gab.
Die neuen Maßnahmen gewähren Amnestie für alle in Chile lebenden undokumentierten Ausländer, deren Zahl auf 300.000 geschätzt wird. Diejenigen, die vor dem 8. April in das Land eingereist sind, können ihren Status regeln und ihren Aufenthalt im Land legalisieren, wodurch sie Zugang zu Bildung, Gesundheit und anderen öffentlichen Dienstleistungen erhalten. Was einen zweiten Blick auf Chiles neue Einwanderungspolitik verdient, die fast wie eine Rassendiskriminierung aussieht, ist die Behandlung der Haitianer.
Während fast alle Bürger der anderen Länder Lateinamerikas und der Karibik weiterhin ohne Visum nach Chile reisen und bei der Einreise ein 90-Tage-Visum erhalten, benötigen Haitianer vor der Einreise ein Visum und bekommen nur einen 30-tägigen Aufenthalt. Für die Familien von Haitianern, die bereits in Chile ansässig sind, wird es jährlich weitere 10.000 Visa geben. Das Problem mit der neuen Einwanderungspolitik ist, dass sie zwar am 16. April auf dem Verwaltungsweg in Kraft getreten ist. Da die Regierung in keinem der beiden Parlamente über eine Mehrheit verfügt, könnte sich die legislative Debatte auf unbestimmte Zeit hinziehen, während sie per Dekret durchgesetzt wurde.
Dieses „Weltproblem“, mit dem Chile heute konfrontiert ist, besteht darin, dass insbesondere die Einwanderung von Haitianern in der chilenischen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die bis vor kurzem eine Inselgesellschaft war, stark in soziale Schichten gegliedert und ausgesprochen rassistisch ist, Ablehnung hervorruft. Es ist kein Zufall, dass trotz der Tatsache, dass schätzungsweise 60% der Chilenen Mestizen, Europäer und Ureinwohner sind, die überwiegende Mehrheit von ihnen sich als weiß betrachtet. Chile war schon immer ein rassistisches Land, weil es seine indigenen Völker ignoriert oder unterschätzt hat. Die Diskriminierung, mit der sie jetzt ihre schwarzen Einwanderer behandelt, von denen die überwiegende Mehrheit Haitianer sind, hat deutlich gemacht, dass der zugrunde liegende Rassismus von den meisten Chilenen nur ungern anerkannt wird.
Wenn die Regierung von Sebastián Piñera dieses rassistische Vorurteil aufgreift, wie sie es mit ihrer neuen Einwanderungspolitik getan zu haben scheint, oder wenn sie mit dem politischen Kalkül handelt, den Rassismus der Wähler zu ignorieren, um die Unterstützung bei den Wahlen nicht zu verlieren, wird sie ihr eigenes Projekt untergraben, eine moderne, wohlhabende, integrierte Gesellschaft mit Chancen für alle aufzubauen.
„Rassenhomogenität“ setzt voraus dass es Rassen gibt. Und genau das ist Rassismus. Ansonsten ist die Kritik durchaus angebracht.