Studie: Wie hoch ist die Terrorgefahr wirklich?

bombe

Absolute Zahlen verstellen leicht den Blick auf die Faktoren, die das Terrorrisiko erhöhen oder ihm entgegenwirken (Foto: Archiv)
Datum: 19. Juni 2019
Uhrzeit: 14:41 Uhr
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Redaktion
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Wie stark sind die Menschen in verschiedenen Ländern der Erde durch Terroranschläge gefährdet? Bisher war es bei Ländervergleichen üblich, die Höhe des Risikos an der Gesamtzahl der Terroranschläge oder der Anschlagsopfer abzulesen. Dieses Verfahren verleitet jedoch zu Fehleinschätzungen, wie der Bayreuther Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. David Stadelmann in einer kürzlich im Southern Economic Journal veröffentlichten Studie zeigt. Will man die Terrorgefahr realistisch einschätzen, ist die Anzahl der Terroranschläge pro Einwohner erheblich aussagekräftiger.

Prof. Dr. David Stadelmann, Inhaber des Lehrstuhls für Entwicklungsökonomik an der Universität Bayreuth, hat die Studie zusammen mit seinem australischen Kollegen Dr. Michael Jetter von der University of Western Australia verfasst. 162 Länder der Erde wurden darin einbezogen. Die Autoren verweisen dabei auf die in den Sozialwissenschaften etablierten Verfahren, mit denen Ländervergleiche in Bezug auf Lebensstandard, Einkommen, Gesundheit oder Arbeitslosigkeit begründet werden. In allen diesen Fällen werden allgemeine Kennzahlen im Regelfall auf die Zahl der Einwohner, also pro Kopf (per capita), umgerechnet. Dennoch orientiert man sich bei der Einschätzung von Terrorgefahren bis heute an der Gesamtzahl von Anschlägen oder Anschlagsopfern.

Daraus resultiert beispielsweise die verbreitete Annahme, in islamisch geprägten Ländern sei das Risiko, einem Anschlag zum Opfer zu fallen, besonders hoch. Tatsächlich ereignen sich, wie Statistiken belegen, in zahlreichen Ländern mit einem signifikanten muslimischen Bevölkerungsanteil eine große Zahl von Terroranschlägen. Irak, Afghanistan und Pakistan, gefolgt von Indien und Sri Lanka, sind die fünf Länder der Erde, in denen von 1970 bis 2015 die meisten Terroropfer zu beklagen waren. Dies zeigen die Daten der Global Terrorism Database. Aber für eine realistische Einschätzung des Risikos, durch einen Anschlag getötet zu werden, muss die Zahl der Terroropfer zur Einwohnerzahl ins Verhältnis gesetzt werden. Von 1970 bis 2015 war die Zahl der Terroropfer pro Einwohner in den zentralamerikanischen Ländern Nicaragua und El Salvador weltweit am höchsten, also in Ländern, die eine mehrheitlich christliche Bevölkerung haben. Danach folgen der Irak, der Libanon und Sri Lanka. Beschränkt man die Statistiken auf die Jahre 2002 bis 2015, waren Irak, Afghanistan, Pakistan, Nigeria und Indien – in dieser Reihenfolge – die Länder mit den meisten Todesopfern. Die Statistik der Terroropfer pro Einwohner wird ebenfalls von Irak und Afghanistan angeführt, aber dann folgen Somalia, Syrien und die Zentralafrikanische Republik.

„Oft wird in öffentlichen Debatten so getan, als sei das Risiko, durch einen Anschlag getötet zu werden, umso höher, je größer der muslimische Bevölkerungsanteil in dem betreffenden Land ist. Unsere statistischen Untersuchungen haben jedoch keine Indizien für diese Annahme ergeben. Im Gegenteil, sofern sich überhaupt ein Zusammenhang zwischen Religion und Terror per capita erkennen lässt, ist ein hoher muslimischer Bevölkerungsanteil möglicherweise ein Faktor, der dem Risiko, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, entgegenwirkt“, sagt Stadelmann.

In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird teilweise auch die Ansicht vertreten, die Demokratie sei eine Staats- und Regierungsform, die den Terrorismus im eigenen Land begünstige – zumindest während der Übergangsphase von autokratischen zu demokratischen Regierungsformen. Tatsächlich ist die Gesamtzahl der Terroranschläge in Demokratien vergleichsweise hoch. Doch nur wenn die Zahl der Terroropfer pro Einwohner ermittelt wird, entsteht ein realistisches Bild von der Bedrohungslage. Wie die Studie zeigt, gibt es keine empirische Basis für die Annahme, die Bürger demokratisch verfasster Länder seien generell einem höheren Terrorrisiko ausgesetzt. Dies wird besonders deutlich am Beispiel von Indien, der Demokratie mit der weltweit höchsten Einwohnerzahl. Es ist zugleich das Land mit der vierthöchsten Opferzahl zwischen 1970 und 2015. Doch zieht man die Zahl der Terroropfer per capita in Betracht, liegt Indien im weltweiten Vergleich auf Platz 82.

„In der Politik und der Öffentlichkeit, aber auch in der Wissenschaft ist die Wahrnehmung terroristischer Bedrohungen von der Zahl der Anschläge und der Todesopfer geprägt, über die in den Medien berichtet wird. Mit unserer Studie wollen wir auch aufzeigen, dass daraus keine Handlungsempfehlungen für die Politik oder die Öffentlichkeit abgeleitet werden sollten. Absolute Zahlen verstellen leicht den Blick auf die Faktoren, die das Terrorrisiko erhöhen oder ihm entgegenwirken. Statistiken, die Auskunft über terroristische Anschläge und Opfer per capita geben, können Fehleinschätzungen besser auflösen. Sie tragen auf diese Weise auch dazu bei, empirisch begründete Erkenntnisse über die tatsächlichen Ursachen von Terrorismus und über geeignete Präventionsstrategien zu gewinnen“, so Stadelmann.

P.S.: Sind Sie bei Facebook? Dann werden Sie jetzt Fan von agência latinapress! Oder abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter und lassen sich täglich aktuell per Email informieren!

© 2009 - 2024 agência latinapress News & Media. Alle Rechte vorbehalten. Sämtliche Inhalte dieser Webseite sind urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung und Verbreitung nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung von IAP gestattet. Namentlich gekennzeichnete Artikel und Leser- berichte geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Für Einsendungen und Rückmeldungen bitte das Kontaktformular verwenden.

Dies könnte Sie auch interessieren

Kommentarbereich

Hinweis: Dieser Kommentarbereich ist moderiert. Leser haben hier die Möglichkeit, Ihre Meinung zum entsprechenden Artikel abzugeben. Dieser Bereich ist nicht dafür gedacht, andere Personen zu beschimpfen oder zu beleidigen, seiner Wut Ausdruck zu verleihen oder ausschliesslich Links zu Videos, Sozialen Netzwerken und anderen Nachrichtenquellen zu posten. In solchen Fällen behalten wir uns das Recht vor, den Kommentar zu moderieren, zu löschen oder ggf. erst gar nicht zu veröffentlichen.

Leider kein Kommentar vorhanden!

Diese News ist älter als 14 Tage und kann nicht mehr kommentiert werden!