Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag kann jetzt auch in Kolumbien Kriegsverbrechen untersuchen.
Die Regierung des Präsidenten Pastrana (1998-2002) hat die Verhandlungen zum Beitritt Kolumbiens zum Römischen Statut zur Errichtung eines internationalen Strafgerichsthofs unterstützt, so dass Kolumbien mit dreimonatiger Verspätung zum 1.11.2002 Mitglied geworden ist. Seit diesem Zeitpunkt kann der IStGH Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen, die auf dem Territorium Kolumbiens in der Zeit nach Inkrafttreten des Statuts begangen worden sind.
Allerdings hat die Regierung Pastrana als eine ihrer letzten Amtshandlungen im Juli 2002 den Vorbehalt des Artikel 124 des Römischen Statuts erklärt. Danach sollten Kriegsverbrechen erst nach einer Übergangszeit von sieben Jahren namentlich ab dem 1.11.2009 verfolgt werden können. Es sollten Friedensverhandlungen mit den FARC und ELN Rebellen nicht behindert werden, so die damalige Regierung. „Denkbar ist auch, dass die regulären Soldaten vor dem Zugriff des Strafgerichtshofs geschützt werden sollten“, so der Präsident der Nationalen Versöhnungs- und Wiedergutmachungskommission, Eduardo Pizarro, auf einer Veranstaltung zum Thema „Kolumbien und Kriegsverbrechen“ in der letzten Woche.
Die Frage ist, was ändert sich in Kolumbien durch Auslaufen des Vorbehalts?
Die Zuständigkeit des IStGH ist zunächst erweitert. Mit den Kriegsverbrechen ist weiteres Kernverbrechen hinzugekommen. Die Kriegsverbrechen sind wesentlich umfassender und in vielen Fällen leichter nachzuweisen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind im Art.7 des Römischen Statuts abschließend geregelt. Erforderlich ist jeweils ein systematisches oder massenhaftes Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung. Beispielsweise stellen die systematische oder massenhafte Tötung der Zivilbevölkerung, das systematische oder massenhafte Verschwinden lassen, die systematische oder massenhafte Vergewaltigung Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Kriegsverbrechen können nur im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes – eines internationalen oder internen – begangen werden und müssen mit diesem im Zusammenhang stehen. Die Frage des internen Konfliktes – nur um einen solchen geht es bei der Beurteilung der Lage in Kolumbien – ist objektiv zu beurteilen und ist deshalb unabhängig von der Beurteilung der jeweiligen Regierung. Ein interner bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn eine hierarchisch organisierte Gruppe, die in der Lage ist das internationale humanitäre Völkerrecht einzuhalten, einen Teil des Staatsgebiets beherrscht. Nimmt man diese Hürde, was in Kolumbien nicht schwer ist, da auch nach dieser Definition bereits seit Jahrzehnten ein interner Konflikt herrscht, kommt man leicht zu einer etwaigen Bejahung von Kriegsverbrechen. So können etwa schon die vorsätzliche Tötung der Zivilbevölkerung, Angriffe auf sie oder auf zivile Gebäude Kriegsverbrechen darstellen. Ebenso die Geiselnahme oder Zwangsverpflichtung von Kindern unter 15 Jahren ohne dass es das Kriterium der Systematik bedarf, kann ein Kriegsverbrechen sein.
Auch wenn es seit dem 1.11.2009 mithin „leichter“ sein kann für den internationalen Strafgerichtshof, so gilt doch immer der Grundsatz der Komplementarität. Danach wird der Gerichtshof nur tätig werden, wenn Kolumbien nicht willens oder fähig ist eines die zuvor beschriebenen Kernverbrechen zu verfolgen. Hierzu gibt es ein weites Feld von Interpretationsmöglichkeiten. Die Regierung wird sagen, dass vernünftige, rechtsstaatliche Verfahren durchgeführt werden, die auch zu Verurteilungen führen. Regierungskritiker werden das Gegenteil behaupten. Scheinverfahren oder halbherzig durchgeführte Verfahren, lässt der IStGH nicht gelten. Allerdings wird er – schon aus Kapazitätsgründen – nur gegen diejenigen tätig werden, die in der Befehlskette ganz oben stehen und gegen Täter vorgehen, deren Taten sich über einen größeren Zeitraum auf ein größeres Gebiet erstreckten und eine gewisse Anzahl von Opfern gefordert haben.
Denkbare Ansätze könnte der IStGH unter anderem in den Verfahren im Rahmen des Gesetzes über Gerechtigkeit und Frieden, dem „Ley de Justicia y Paz“ finden. Aber auch in den Verfahren gegen zahlreiche Parlamentarier, der sogenannten Parapolitica, wäre ein Eingreifen des IStGH denkbar. Obgleich die weitaus größte Zahl der Taten sicher vor dem 1.11.2009 geschehen sein dürften, so dass ggf. die Verbrechen gegen die Menschlichkeit ab dem 1.11.2002 in Frage kämen.
Schließlich wäre in den Fällen, in denen junge Zivilisten von Militärs in Guerilla Uniform gepackt, anschließend ermordet und in Gräber geworfen worden sind, um einen militärischen Erfolg vorzuzeigen, ein Eingreifen denkbar. Gerade im letzten Fall zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zum Thema „falsos positivos“, Philip Alston, konnte in seinem Abschlußbericht ein Systematisches Vorgehen des Militärs nicht feststellen. Allerdings könnte es sich nach dem 1.11.2009 unter gewissen Umständen um ein Kriegsverbrechen handeln.
Der IStGH ist auch für Fälle des Unterlassen zuständig. Also für solche Fälle, wo der Vorgesetzte von Taten wusste oder hätte wissen müssen und nichts dagegen tat.
Kolumbien stand vor dem 1.11.2009 und auch danach unter Beobachtung durch die Staatsanwaltschaft beim IStGH, die umfangreiche Vorermittlungen durchgeführt hat und auch weiter durchführen wird. Sofern die Staatsanwaltschaft eine hinreichende Grundlage für ein sich den Vorermittlungen anschließendes Ermittlungsverfahren sieht, wird sie die Vorverfahrenskammer des IStGH um eine Genehmigung zur Einleitung des Ermittlungsverfahren ersuchen. Erst dann würde die Staatsanwaltschaft mit den eigentlichen Ermittlungen beginnen.
Die Frage, was hat sich für Kolumbien seit dem 1.11.2009 geändert, wäre also mit „nicht viel“ zu beantworten. Denn solange Kolumbien seiner Verpflichtung nachkommt, selbst umfassend wegen sämtlicher Kernverbrechen zu ermitteln und selbst die richtigen Täter zu verurteilen, wird der IStGH nicht eingreifen und vielleicht eines Tages die Beobachtung Kolumbiens einstellen. Sollte Kolumbien dieser Verpflichtung nicht nachkommen und die Straflosigkeit gar unterstützen oder perpetuieren, wäre die Frage mit „sehr viel“ zu beantworten, da sich der Fächer der Kernverbrechen mit der Zuständigkeit über Kriegsverbrechen doch deutlich erhöht hat.
Autor: Andreas Forer
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