In den Städten Lateinamerikas gewinnt das Fahrrad als Fortbewegungsmittel immer mehr Bedeutung. Als Metropole mit der längsten Strecke an Radwegen gilt Bogotá in Kolumbien, mit fast 500 Kilometern. Gefolgt wird sie von den beiden brasilianischen Städten Rio de Janeiro mit 307 Kilometern und São Paulo mit 270,7 Kilometern. Insgesamt können sich die Stadtbewohner Lateinamerikas laut der Studie „Ciclo-inclusión en América y el Caribe“ an einem Radwegnetz von über 2.500 Kilometern erfreuen. Die Bogotános machen mehr als 800.000 Radtouren pro Tag und belegen damit zum ersten Mal den 12. Platz im umfassenden Ranking der fahrradfreundlichsten Städte der Welt. Die radfreundlichsten Städte sind Kopenhagen, Amsterdam, Utrecht, Antwerpen und Straßburg. Zu diesem Ergebnis kommt der Copenhagenize-Index, der rund 600 Städte weltweit bewertet hat.
Bereits im Jahr 2015 belegten verschiedene Studien, dass sich die Lateinamerikaner „in ihre Fahrräder verliebt haben“. Seitdem ist diese Bewegung noch stärker geworden, was zum Teil auf das exponentielle Wachstum von Fahrrad-Sharing-Systemen, E-Bikes und anderen Formen der Mikro-Mobilität zurückzuführen ist. Viele lateinamerikanische Städte haben ein chronisches Problem mit dem Verkehr. Im Jahr 2018 wurde die kolumbianische Hauptstadt Bogotá als dritt verkehrsreichste Stadt der Welt bezeichnet (INRIX 2018 Global Traffic Scorecard), gefolgt von Mexiko-Stadt (4.) und São Paulo (5.). Laut der umfassendsten Studie zu Staus und Mobilität verbringen die Autofahrer in Bogotá jedes Jahr bis zu 272 Stunden im Stau.
Am 15. Dezember 1974 erteilten die Stadtverantwortlichen dem in den USA ausgebildeten Architekten Jaime Ortiz Mariño und über 5.000 Fahrradfreunden die Erlaubnis, drei Stunden lang frei durch das Zentrum von Bogotá zu fahren. Dies war die Geburtsstunde von „Ciclovía“, einer Bewegung, die als Bürgerprotest begann und sich allmählich zu einer festen Institution entwickelte: Heute wird „Ciclovía“ weitgehend als wöchentliche Gelegenheit für die Anwohner wahrgenommen, den städtischen Raum zurückzugewinnen und Alternativen zum Privatwagen zu fördern.
Jeden Sonntag und Feiertag zwischen 07:00 und 14:00 Uhr Ortszeit übernimmt ein Meer von Radfahrern, Joggern und Straßenverkäufern die 122 Kilometer der Straßen in Bogotá, die für diesen Anlass ganz oder teilweise geschlossen sind. Die Veranstaltung zieht in der Regel etwa 1,7 bis 2 Millionen Menschen an, was etwa einem Viertel der Bevölkerung der Stadt entspricht. Fast die Hälfte der Teilnehmer tritt mindestens drei Stunden lang in die Pedale. Alle Arten von nicht motorisierten Verkehrsmitteln sind willkommen. Die Direktorin von „Ciclovía“, Bibiana Sarmiento, stellt fest, dass sie in einer hochgradig geschichteten Gesellschaft wie der Kolumbiens unter anderem den egalitären Charakter von „Ciclovía“ liebt. „Niemand interessiert sich dafür, aus welcher sozialen Klasse Du kommst: Jeder ist willkommen, und jeder ist gleich.“ In Bogotá schätzt die Stadt die Kosten für die Organisation von „Ciclovía“ auf weniger als 0,10 US-Dollar pro Benutzer und Woche.
Aktuell verfügt Bogotá über insgesamt 480 Kilometer Radwege – eine Zahl, die in Zukunft weiter wachsen dürfte. Im Jahr 2015 machte das Radfahren sechs Prozent der täglichen Fahrten in der Stadt aus und wird bis 2020 zehn Prozent oder etwa eine Million Fahrten pro Tag erreichen. „Vor zwei Jahren haben wir die Leute befragt, warum sie Fahrrad fahren. Wir haben die gleichen Ergebnisse wie die Umfragen in Kopenhagen und Amsterdam erhalten: Das spart Zeit“, so Sarmiento. Eine der Prioritäten des neu vorgestellten Fahrradplans (Plano Bici) ist „Quinto Centenario“, ein 25 Kilometer langer Fahrradweg, der von Nord nach Süd durch eine Vielzahl von Stadtvierteln mit niedrigem, mittlerem und hohem Einkommen führt.
Angesichts des Klimawandels ist das Radfahren eine der effektivsten Möglichkeiten, die Verkehrsemissionen in städtischen Gebieten zu reduzieren – ein Punkt, der auf dem letzten C40-Weltgipfel der Bürgermeister in Kopenhagen laut und deutlich zum Ausdruck kam. Die entstehende urbane Radsport-Kultur zeigt, dass diese Art von Veränderung tatsächlich möglich ist und als große Inspirationsquelle für Megacitys auf der ganzen Welt dienen könnte.
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