Blitz – Eins, Zwei, Drei – und der Donner. Seit Jahrhunderten schätzen Menschen die Entfernung eines Gewitters aus der Zeit zwischen Blitz und Donner ab. Je größer der zeitliche Abstand zwischen beiden Signalen ist, desto weiter entfernt ist der Beobachter vom Ort des Blitzes. Denn der Blitz breitet sich beinahe ohne Zeitverzögerung mit Lichtgeschwindigkeit aus, der Donner mit der viel langsameren Schallgeschwindigkeit von etwa 340 Metern pro Sekunde. Auch Erdbeben senden Signale aus, die sich mit Lichtgeschwindigkeit (300.000 Kilometer pro Sekunde) ausbreiten und lange vor den relativ langsam seismischen Wellen (etwa 8 Kilometer pro Sekunde) aufgezeichnet werden können. Allerdings handelt es sich bei den lichtschnellen Signalen nicht um Blitze, sondern um plötzliche Änderungen der Schwerkraft, hervorgerufen durch eine Verlagerung der Masse im Erdinneren. Erst vor kurzer Zeit wurden diese sogenannten PEGS-Signale (PEGS = Prompt elasto-gravity signals) mit seismischen Messungen nachgewiesen. Mit ihnen ließe sich eventuell sehr früh vor dem Eintreffen der zerstörerischen Erdbeben- oder Tsunamiwellen erkennen, dass ein Erdbeben stattgefunden hat.
Allerdings ist die Gravitationswirkung bei diesem Phänomen sehr klein. Sie beträgt weniger als ein Milliardstel der Gravitation der Erde. Daher konnten PEGS-Signale bisher nur für die allerstärksten Erdbeben aufgezeichnet werden. Zudem ist der Prozess ihrer Erzeugung komplex: Sie entstehen nicht nur direkt am Erdbebenherd, sondern auch fortwährend bei der Ausbreitung der Erdbebenwellen durch das Erdinnere.
Bisher gab es keine direkte und exakte Methode, um die Erzeugung der PEGS-Signale verlässlich im Computer zu simulieren. Der Algorithmus, den die Forschenden des GFZ um Rongjiang Wang nun vorgeschlagen haben, kann zum ersten Mal mit hoher Genauigkeit und ohne viel Aufwand PEGS-Signale berechnen. Die Forschenden konnten außerdem zeigen, dass die Signale Rückschlüsse auf Stärke, Dauer und Mechanismus sehr großer Erdbeben erlauben. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Earth and Planetary Science Letters veröffentlicht.
Ein Erdbeben verlagert ruckartig die Gesteinsschollen im Erdinnern, und damit die Massenverteilung in der Erde. Bei starken Erdbeben kann diese Verlagerung sogar mehrere Meter betragen. „Da die lokal messbare Gravitation von der Massenverteilung in der Umgebung der Messstelle abhängt, erzeugt jedes Erdbeben eine kleine, aber unmittelbar wirkende, Änderung der Gravitation“, sagt Rongjiang Wang, wissenschaftlicher Koordinator der neuen Studie.
Jedes Erdbeben erzeugt aber auch Wellen in der Erde selbst, die wiederum für kurze Zeit die Gesteinsdichte und damit die Gravitation ein wenig verändern – die Schwerkraft der Erde schwingt gewissermaßen im Takt des Erdbebens. Weiter erzeugt diese schwingende Gravitation eine kurzeitige Kraftwirkung auf das Gestein, die wiederum sekundäre seismische Wellen auslöst. Ein Teil dieser gravitativ ausgelösten sekundären Erdbebenwellen kann bereits vor der Ankunft der primären Erdbebenwellen beobachtet werden.
„Wir standen vor dem Problem diese mehrfachen Wechselwirkungen zu integrieren, um genauere Abschätzungen und Vorhersagen über die Stärke der Signale zu machen“, sagt Torsten Dahm, Leiter der Sektion Erdbeben und Vulkanphysik am GFZ. „Rongjiang Wang hatte die geniale Idee, einen bereits früher bei uns entwickelten Algorithmus auf die Fragestellung des PEGS anzupassen – und hatte damit Erfolg.“
„Wir haben unseren neuen Algorithmus zuerst auf das Tohoku-Beben vor Japan aus dem Jahr 2011 angewendet, das auch für den Tsunami von Fukushima ursächlich war“, sagt Sebastian Heimann, Programmentwickler und Datenanalyst am GFZ. „Dort lagen bereits Messungen über die Stärke des PEGS-Signale vor. Die Übereinstimmung war perfekt. Wir hatten damit die Gewissheit für Vorhersagen anderer Erdbeben und des Potenzials der Signale für neue Anwendungen.“
In Zukunft könnte man mit diesem Verfahren durch die Auswertung der Gravitationsänderungen viele hundert Kilometer entfernt vom Epizentrum eines Erdbebens vor der Küste bereits während des Erdbebenbruches feststellen, ob es sich um ein Starkbeben handelt, das einen Tsunami auslösen könnte, so die Forschenden. „Allerdings ist es noch ein langer Weg bis dorthin“, sagt Rongjiang Wang, „die Messgeräte heute sind noch nicht empfindlich genug, und die umweltbedingten Störsignale sind zu groß, als dass sich die PEGS-Signale unmittelbar in ein funktionierendes Tsunami-Frühwarnsystem einbauen ließen.“
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