„Ich kam, sah und siegte!“ Mit diesen Worten hat Caeser seinen Sieg in der Schlacht bei Zela zusammengefasst. Zumindest überliefern das zwei antike Schriftsteller, die im römischen Reich wirkten. Ob der Kampf in Kleinasien tatsächlich so unkompliziert ablief, bleibt wohl fraglich. Klar ist: Geschichtsschreibung ist selten neutral, der Blick auf die Historie oft subjektiv gefärbt – je nachdem, aus welcher Perspektive Autorinnen und Autoren ein Ereignis betrachten. Tendenziell neigen Menschen dazu, ihre eigene soziale Gruppe positiver zu bewerten als die Fremdgruppe. „In der Psychologie nennen wir das den Eigengruppenfehler“, erklärt Prof. Dr. Aileen Oeberst von der FernUniversität in Hagen. Sie leitet das Lehrgebiet Medienpsychologie. Davon ausgehend, dass Individuen ihre soziale Gruppe verklären, fragte sie sich: „Finden wir diesen Eigengruppen-Fehler auch auf kollektiver Ebene?“ Antworten liefert jetzt ein Aufsatz, den die Psychologin als Hauptautorin in Zusammenarbeit mit vier weiteren Forschenden veröffentlicht hat. Das untersuchte Medium: Die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia.
Die kollaborative Plattform berechtigt weltweit alle Nutzenden dazu, an Einträgen mitzuschreiben. Die meisten Texte sind somit Gemeinschaftswerke. „Das Interessante ist, dass es Wikipedia in verschiedenen Sprachversionen gibt“, so Prof. Oeberst. Auf diese Weise bilden sich trotz aller Offenheit der Plattform gewisse Gruppenzugehörigkeiten. Um deren Effekte näher zu untersuchen, konzentrierte sich das Forschungsteam auf Wikipedia-Artikel zu militärischen Auseinandersetzungen von der frühen Neuzeit bis zur Moderne – darunter etwa der Falklandkrieg zwischen dem Vereinigten Königreich und Argentinien, der Atombombenabwurf der USA auf das japanische Hiroshima oder der Englisch-Spanische Krieg (1585 bis 1604). Bei der Auswahl entscheidend war, dass alle Konflikte zwei Parteien haben, die zwei unterschiedliche, geläufige Sprachen sprechen. In jeder dieser Sprachen muss es einen eigenen Wikipedia-Artikel geben.
Welches Bild zeichnet Wikipedia?
In drei Einzelstudien kamen nun die Beiträge auf den Prüfstand: „Wir haben die einzelnen Artikel übersetzen lassen. Sogenannte Rater haben die Texte anschließend inhaltlich codiert.“ Die Rater (engl.: to rate = bewerten) schätzten die Artikel nach bestimmten Regeln ein – ohne dabei zu wissen, welche der beiden Sprachfassungen sie lesen. Werden die jeweiligen Konfliktparteien in den einzelnen Texten eher positiv oder negativ dargestellt? Inwiefern weichen die Sprachfassungen dabei voneinander ab? Zudem versuchte das Team potenzielle Fehlerquellen auszuklammern. Beispielweise lasen in einer Teilstudie nur muttersprachliche Rater die Originaltexte. So wurde ausgeschlossen, dass die Übersetzungen die Ergebnisse verfälschen. Über alle 35 Konflikte hinweg zeigte sich der Eigengruppenfehler als eindeutiges Muster, dennoch gab es große Variationen in den einzelnen Konflikten: „In vielen Artikeln wird die eigene Gruppe systematisch besser oder auch mächtiger dargestellt und die andere Konfliktpartei als unmoralischer und stärker verantwortlich für den Konflikt“, unterstreicht Oeberst. „Es gibt aber auch einige Konflikte ohne Unterschiede zwischen den Sprachversionen, sowie Beispiele mit dem gegenteiligen Muster.“ So geht etwa der englische Eintrag über den Atombombenabwurf härter mit den US-Amerikanern ins Gericht als sein japanisches Pendant.
Sprachfassung ungleich Landesfassung
Spiegeln sich auf Wikipedia einfach bestehende nationale Rivalitäten? Diese Erklärung würde zu kurz greifen, meint die Psychologin. Die Gruppen seien nicht ohne weiteres mit den im Konflikt beteiligten Staaten gleichzusetzen. So bearbeiten die englischen und spanischen Artikel über den Falklandkrieg auch Leute aus den USA oder Mexiko. Oeberst: „Eigentlich haben nicht alle Autorinnen und Autoren etwas mit den Gruppen ‚Großbritannien‘ und ‚Argentinien‘ zu tun. Dass wir trotzdem einen Eigengruppenfehler in den beiden Artikeln gefunden haben, ist deshalb umso interessanter.“ Als Gründe führt die Psychologin mehrere Möglichkeiten an: „Tatsächlich schreiben an einem Artikel über einen bestimmten Konflikt doch überwiegend Betroffene aus den jeweiligen Staaten mit.“ Es könnte zusätzlich auch die sprachliche und kulturelle Verbundenheit sein, die über Grenzen hinweg für Identifikation sorgt – bezüglich der Falklandkriege etwa unter allen Südamerikanern. Es gibt noch eine weitere Vermutung: „Wikipedia-Artikel müssen sich immer auf Quellen stützen. Spanischsprachige Personen beziehen sich eher auf Texte, die ihrerseits schon den Eigengruppenfehler beinhalten könnten – etwa, weil sie aus den argentinischen Nachrichten stammen.“
Diversität verringert Fehler
„Wikipedia ist nicht frei von Fehlern. Es steht und fällt mit den Menschen, die daran mitschreiben“, folgert Oeberst. „Ein Ergebnis unserer Arbeit ist auch: Je mehr Diversität unter den Autorinnen und Autoren herrscht, desto geringer ist der Eigengruppenfehler. Diversität erhöht also die Ausgewogenheit.“ Schlechter als andere Quellen ist die Online-Enzyklopädie aus Sicht der Medienpsychologin jedenfalls nicht: „Es kann trotzdem sein, dass die Wikipedia-Artikel über manche Konflikte deutlich ausgewogener informieren als diverse Nachrichtenberichte, Lexika oder Geschichtsbücher.“
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