In der Provinz Formosa an der Grenze zu Paraguay leben über 20.000 Indigene der Wichí. Konflikte um Land, Zugang zu öffentlichen Gütern und täglich erfahrener Rassismus haben eine lange Tradition. Im Kontext der COVID-Pandemie spitzt sich die Behördenwillkür zu: In Isolationszentren werden Indigene gegen ihren Willen festgehalten und Proteste werden mit Polizeigewalt beantwortet. In ihrem Bericht „Nos pronunciamos y proponemos“ (dt. etwa: Wir erklären uns und reden mit), der die GfbV diese Woche erreichte, dokumentieren sie mindestens neun Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Kontext der COVID-Pandemie.
An der Grenze zu Paraguay: Die Provinz Formosa
Noch vor 100 Jahren lebten indigenen Völker Wichí, Nivaclé, Qom und Pilagá in der heutigen argentinischen Provinz Formosa auf ihren eigenen Territorien. Heute leben sie auf nur noch 4,6 Prozent der ehemals besiedelten Gebiete. Spätestens seit der Jahrtausendwende hat sich ein drastisch ausbreitendes Agrarbusiness viele Gebiete einverleibt. Umwelt und Biodiversität leiden. Formosa gehört zu den am meisten von Entwaldung betroffenen Provinzen Argentiniens. Die Rechte der Indigenen werden dabei kaum geachtet und das schon sehr lange. Seit bereits 25 Jahren regiert Gildo Insfrán als Gouverneur der Provinz Formosa mit einer Zweidrittelmehrheit der Regierungspartei im lokalen Parlament.
Was ist passiert?
Die ohnehin prekäre Gesundheitsversorgung der indigenen Bevölkerung u.a. durch den Mangel an Trinkwasser in den Gemeinden und intrakulturellen Hürden im Gesundheitssystem verschlechtert sich seit Anfang des Jahres 2021 an. In sogenannten „Präventionsisolationszentren“ sind Indigene behördlicher Willkür schutzlos ausgesetzt. Verfasst mit der Unterstützung von der Vereinigung zur Förderung von Kultur und Entwicklung (APCD), der Diözese für die Belange Indigener (EDIPA), die Gemeinde María de la Merced, der Stiftung Manos de Hermanos und des Nachbarschaftszentrums Enrique Angelelli berichtet das Dokument von besorgniserregenden Fällen, unter denen die Indigene angesichts der von der Regierung ergriffenen Gesundheitsmaßnahmen leiden.
Schon der von der Regierung angeordnete Bewegungsradius ist dem Bericht zufolge willkürlich definiert. Um zu den nächsten Gesundheitszentren zu gelangen, müssten Indigene zur Grenze der benachbarten Provinz. Einige wurden dabei sofort verhaftet und mehrere Tage festgehalten. Die darauffolgenden Proteste wurden mit Gewalt beantwortet. Die Polizei nutzte Gummischusswaffen und verhaftete die Demonstrierenden.
Es reicht so weit, dass in einer viral gegangen Tonaufnahme der Bürgermeister von Laguna Yema Luis Alberto Corvalán droht, Indigene zu verhaften und in Isolationszentren zu bringen, wenn sie sich nicht an die Quarantäneregeln hielten. Seiner Meinung nach ist die beklagte Diskriminierung eine Lüge. Indigenen wären die ersten, die soziale Hilfe bekommen würden und gleichzeitig diejenigen, die sich am wenigsten sich an die Regeln hielten.[1]
Präventivisolationszentren
Das Dokument stellt zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und führt Zeugenberichte auf. Nach dem Bekanntwerden von COVID-Fällen im örtlichen Krankenhaus suchten die Behörden nach weiteren positiven Fällen, engen Kontakten des Krankenhauspersonals und der Patient*innen. Die Suche wurde von der Polizei durchgeführt. Berichte und Fotos zeigen, wie Krankenwagen neben Polizeifahrzeugen indigene Gemeinschaften bzw. Gemeinden erreichten. In der Gemeinde La Esperanza kamen im Morgengrauen Mannschaftswagen:. Polizeikräfte betraten Häuser und überraschten schlafende Bewohner*innen, was insbesondere bei Kindern Angst auslöste.
In den Gemeinden Obrero, Tannery und Belgrano wurden ebenfalls Indigene von der Polizei aufgegriffen, ohne sie darüber zu informieren, warum und wohin sie gebracht würden. Weder durften sich die Bewohner*innen widersetzen, noch wurde ihnen Zeit gelassen, einige Dinge mitzunehmen. Betroffene berichten von Befehlen und Drohungen, so sagten sie zu einem jungen Mann, der nicht mitkommen wollte: „Befehl des Gouverneurs – sonst werden Sie verhaftet.“ In einem anderen Fall lautete die Drohung: „Wenn Sie nicht mitkommen, verliert Ihre Mutter ihren Job.“
Die Autor*innen unterstreichen, dass der Staat neun Monate Zeit gehabt hätte, Gesundheitsmaßnahmen zum Schutz gegen die Pandemie zu entwickeln. Diese gewaltsamen Maßnahmen seien nie nötig gewesen.
Nach diesen Suchkampagnen begannen die Behörden Isolationszentren für asymptomatische positive Fälle und deren enge Kontaktpersonen in örtlichen Schulen einzurichten. Zu Beginn passierte dies ausschließlich in der Provinzhauptstadt von Formosa, etwa 450 Kilometer von den Wohnorten der indigenen Wichí entfernt. Menschen wurden in Gruppen von 20 bis 30 Personen mit Gemeinschaftsbädern ohne hinreichenden Infektionsschutz untereinander untergebracht. Bewacht wurden die Einrichtungen von Polizeikräften. Das Verlassen der Zentren war den Untergebrachten strengstens verboten. Betroffene berichten von sehr belastenden Bedingungen, von Schlägen und erniedrigender Behandlung von Seiten der Polizei. Einige Frauen berichten von Panikattacken, Tachykardie und Depressionen. Viele Kinder, darunter auch Säuglinge, wurden von ihren Müttern getrennt und bei Verwandten oder Nachbarn untergebracht.
Die Untergebrachten wussten nicht, wann sie gehen würden. Wenn es während der Isolation einen weiteren positiven Fall gab, verlängerte sich der Quarantänezeitraum für alle um weitere 14 Tage. Ebenfalls wurden asymptomatische positive Patient*innen aus Krankenhäusern in die Isolationszentren verlegt. Es gab Leute, die 30 Tage in diesen Zentren blieben. Angehörige berichten, dass sie keine Informationen zu den Aufenthaltsorten ihrer Verwandten hatten. Über den Verbleib von 19 Personen ist bis heute nichts bekannt. Ihre Familien wissen nicht, was mit ihnen passiert ist.
Es braucht Aufmerksamkeit von außen
Viele der Fälle wurden dem Nationalen Sekretär für Menschenrechte, Horacio Pietragalla Corti, während seines letzten Besuchs übergeben und der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR) überstellt. Im letzten Abschnitt des Berichts formulieren die Autor*innen Vorschläge zu Gesetzgebung, besseren Bildungschancen, Ernährungssouveränität und Gesundheitsversorgung. Sie fordern einen gleichberechtigten Dialog mit der Lokalregierung und dem argentinischen Staat.
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