Getarnte kolumbianische Soldaten mit Gewehren schleichen in brütender Hitze durch die dichte Vegetation an der Grenze zu Venezuela. Dort, unbehelligt vom venezolanischen Regime, operieren Drogenbanden und überqueren die Grenze nach Belieben. Die Soldaten gehören zu einer vierzehntausend Mann starken Militäreinheit, die letzten Monat gegründet wurde, um das zunehmende Blutvergießen in der nordöstlichen Provinz Norte de Santander einzudämmen: Kolumbiens neues Epizentrum des Konflikts, der durch die steigende Kokainproduktion angeheizt wird. In Norte de Santander, das durch Minen, Scharfschützen und Hinterhalte gefährdet ist, sind in diesem Jahr sechzehn Soldaten bei rund dreißig Angriffen ums Leben gekommen. Neunzehn Mitglieder illegaler bewaffneter Gruppen kamen ebenfalls ums Leben und Dutzende von Soldaten, Rebellen und Bandenmitgliedern wurden verletzt, wie das Verteidigungsministerium mitteilte. Die militärische Aufstockung ist jedoch möglicherweise nicht die richtige Taktik: Die Ausrottung der Kokablätter, des Rohstoffs für Kokain, geht aufgrund des Widerstands der Einheimischen zurück. Nach ihrer Meinung haben sie nur wenige andere Möglichkeiten, um zu überleben. Darüber hinaus hat die kolumbianische Armee eine wechselvolle Geschichte: Seit mehr als einem halben Jahrhundert kämpft sie gegen Rebellen, Drogenhändler und kriminelle Banden und hat dabei bisweilen gegen die Menschenrechte verstoßen.
Die Regierung von Präsident Ivan Duque beschuldigt das Regime von Diktator Nicolas Maduro, den Banden über die Grenze hinweg einen sicheren Hafen zu bieten und an den Drogenlieferungen in die Vereinigten Staaten und nach Europa beteiligt zu sein, um einen Teil der Gewinne zu erhalten. Die kollabierte Wirtschaft Venezuelas und die zügellose Kriminalität heizen die Gewalt an der Grenze ebenfalls an. Es ist Realität, dass die rebellische Nationale Befreiungsarmee (ELN) in einigen venezolanischen Städten de facto als lokale Regierung und führender Arbeitgeber fungiert. Kolumbien hofft, dass die Truppenaufstockung in Norte de Santander einen Fahrplan für die Befriedung anderer Teile des Landes liefern wird, dessen langer Bürgerkrieg nun in lokale Kämpfe gegen transnationale Aufständische und Kriminelle zerfallen ist. Die durchlässige Grenze und die schwache Strafverfolgung in Venezuela ermöglichen es der Guerilla der ELN und den Dissidenten der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), die ein Friedensabkommen von 2016 ablehnen, anzugreifen und dann über die Grenze zu fliehen. Etwa die Hälfte der ELN-Kämpfer und dreißig Prozent der FARC-Dissidenten operieren von dort aus, ubehelligt vom venezolanischen Regime.
Auf der kolumbianischen Seite kämpfen die Gruppen gegeneinander um die Kontrolle der steigenden Kokaproduktion. In einem Gebiet, Catatumbo, können nach Angaben der Vereinten Nationen derzeit dreihundertzwölf Tonnen Kokain pro Jahr produziert werden – ein Viertel der kolumbianischen Produktion. Die Zahl der Morde in Norte de Santander ist im vergangenen Jahr auf fünfhundertsechsundsiebzig gestiegen, verglichen mit fünfhundertneununddreißig im Jahr 2019. Bis September 2021 wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums vierhundertsechsunddreißig Menschen ermordet. Seit Anfang 2020 wurden zweiundzwanzig Menschenrechtsaktivisten ermordet, während nach Angaben von Aktivistengruppen rund sechstausendfünfhundert Menschen durch Kämpfe vertrieben wurden. Kriminelle Gruppen greifen vermehrt hochrangige Ziele an, um die Behörden von den Drogenanbaugebieten und den Routen zu geheimen Flugplätzen in Venezuela abzulenken.
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