In Kolumbien leben mehrere Millionen Geflüchtete, darunter 1,8 Millionen Menschen aus Venezuela. Für die Pandemiebekämpfung ist es wichtig, das Infektionsgeschehen auch in dieser besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe zu beobachten. Experten der Charité – Universitätsmedizin Berlin werden die lokalen Gesundheitsbehörden dabei durch die Bereitstellung von SARS-CoV-2-Tests und die Schulung des Laborpersonals unterstützen. Ein besonderer Fokus liegt auf der Überwachung der Virusvariante My, die unter Beobachtung der Weltgesundheitsorganisation steht und sich in Kolumbien stark verbreitet hat. Im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) fördert die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH das Projekt mit rund zwei Millionen Euro.
Kolumbien ist das Land mit den meisten Binnenvertriebenen weltweit. Wegen anhaltender Konflikte zwischen bewaffneten Gruppen waren Ende 2020 laut UNO-Flüchtlingshilfe 8,2 Millionen Menschen im eigenen Land auf der Flucht. Betroffen ist vor allem die bäuerliche, indigene und afrokolumbianische Bevölkerung. Zusätzlich wirkt sich die politische Krise in Venezuela sehr stark auf den lateinamerikanischen Staat aus: Kolumbien hat bisher mehr als 1,8 Millionen Geflüchtete aus dem Nachbarland aufgenommen. Weitere Hunderttausende Venezolanerinnen und Venezolaner nutzen Kolumbien als Transitland, um in andere Länder zu gelangen.
„All diese Menschen sind wegen ihrer prekären Lebensbedingungen besonders gefährdet für Infektionskrankheiten“, sagt Prof. Dr. Jan Felix Drexler, Leiter des Projekts vom Institut für Virologie der Charité. „Aufgrund ihrer Mobilität tragen sie jedoch auch zur Verbreitung von Krankheitserregern bei. Insbesondere in der aktuellen Pandemie kann ein starkes Infektionsgeschehen in den mobilen Bevölkerungsgruppen das Gesundheitssystem des Gastlandes erheblich belasten. Sowohl für die Bekämpfung der Pandemie als auch zum Schutz der Geflüchteten ist es deshalb wichtig, das Infektionsgeschehen mit verlässlicher Diagnostik gut zu beobachten.“
Mit seinem Team und in Zusammenarbeit mit dem von der GIZ vor Ort umgesetzten Projekt „SI Frontera“ wird Prof. Drexler die kolumbianischen Behörden dabei unterstützen. Dazu ist geplant, Kolumbien voraussichtlich Anfang 2022 rund 500.000 PCR-Tests für SARS-CoV-2 zur Verfügung zu stellen. Sie sollen insbesondere für die Diagnostik in Aufnahmegemeinden von Geflüchteten im Raum Botogá und der Grenzregion zu Venezuela eingesetzt werden.
Dabei kommt dem Aufspüren der SARS-CoV-2-Variante My besondere Bedeutung zu. „Die My-Variante wurde weltweit zuerst in Kolumbien nachgewiesen und hat sich dort stark ausgebreitet“, erklärt Prof. Drexler. „Mittlerweile hat man dieses Virus aber in Dutzenden Ländern der Erde entdeckt, insbesondere auch in den USA. Erste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass My schlechter vom Immunsystem erkannt werden könnte als die ursprüngliche SARS-CoV-2-Variante. Sollte sich dies bestätigen, könnten sich Menschen trotz Impfung oder durchgemachter Erkrankung mit höherer Wahrscheinlichkeit anstecken. Wir müssen My also – wie auch die jetzt viel diskutierte Variante Omikron – genau im Blick behalten.“
Das Problem: Es gibt keine kommerziell erhältlichen Coronavirus-Tests, die neben der Feststellung einer Infektion auch darüber Auskunft geben können, ob diese auf My oder eine andere zirkulierenden Variante zurückzuführen ist. Das Forschungsteam plant deshalb, einen neuen PCR-Test zu entwickeln, der neben My auch für Kolumbien besonders relevante Virusvarianten wie Beta, Delta und Lambda gleichzeitig erkennen kann. Angesichts der aktuellen Verbreitung von Omikron soll das Verfahren auch diese Variante abdecken. So wird es möglich sein, innerhalb von 90 Minuten anhand von nur einer Abstrich-Probe herauszufinden, ob eine Person mit SARS-CoV-2 infiziert ist und, wenn ja, mit welcher Virusvariante. Zusätzlich wird das Team der Charité den lokalen Behörden Antikörper-Tests zur Verfügung stellen. Sie geben anhand von Blutproben Aufschluss darüber, wie weit SARS-CoV-2 sich bereits verbreitet hat.
Ein wichtiger Bestandteil des Projekts ist auch der Wissenstransfer: Die Charité-Experten werden das Laborpersonal der Universidad Industrial de Santander (UIS) sowie des Instituto Nacional de Salud (INS) – dem kolumbianischen Pendant zum Robert Koch-Institut – in der Durchführung der Tests und der Arbeit mit infektiösem Virus schulen. „Kolumbien versorgt die venezolanischen Geflüchteten nach allen Kräften mit Impfungen und medizinischer Behandlung“, betont Prof. Drexler. „Mit den Labormaterialien und durch Qualifizierung des Personals werden die lokalen Behörden darüber hinaus bestimmen können, welche Virusvarianten aktuell zirkulieren und ob die Impfungen dagegen wirksam sind. Das wird der Politik vor Ort als wichtige Grundlage für die Ergreifung oder Einstellung von Maßnahmen dienen, aber auch essenzielle Daten für die globale Bekämpfung der Pandemie liefern – wie uns das Beispiel Omikron gerade vor Augen geführt hat. Schließlich und endlich ist das Projekt also auch ein Beitrag zur öffentlichen Gesundheit hier bei uns in Deutschland und Europa.“
Bei der Umsetzung des Projekts kann das Expertenteam auf gute Landes- und Sprachkenntnisse zurückgreifen und auf Strukturen aufbauen, die es im Rahmen eines Vorgänger-Projekts bereits etabliert hat: Seit Ende 2020 etablierten die Virologinnen und Virologen in der Grenzregion zwischen Kolumbien und Venezuela die COVID-19-Diagnostik insbesondere mit Antigen-Schnelltests. Die Initiative war ebenfalls von der GIZ im Auftrag des BMZ mit knapp zwei Millionen Euro gefördert worden.
Das Team um Prof. Drexler ist seit Beginn der Pandemie in vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Osteuropas beratend tätig. In Zusammenarbeit mit der GIZ war es bereits im afrikanischen Benin, Ghana und Mauretanien, im Irak, in Kirgistan, Usbekistan, der Republik Moldau sowie in Kolumbien, Ecuador, Peru, Paraguay, Costa Rica, Honduras, Guatemala, Venezuela, der Dominikanischen Republik und Mexiko im Einsatz. Für die Unterstützung Perus im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie ist Prof. Drexler gemeinsam mit einem Einsatzleiter der GIZ, Dr. Michael Nagel, mit der Ehrentafel des Peruanischen Kongresses ausgezeichnet worden. Die Charité-Experten engagieren sich zudem im Pandemie-Dialog mit Staaten Lateinamerikas und der Karibik, der vom Auswärtigen Amt unterstützt wird. Der Austausch von Erfahrungen und wissenschaftlicher Rat beispielsweise zur diagnostischen Strategie soll den Ländern Hilfestellung im Umgang mit der Pandemie bieten.
Arbeitsgruppe Virusepidemiologie der Charité
Die von Prof. Dr. Jan Felix Drexler geleitete AG Virusepidemiologie arbeitet an der Erforschung neuartiger Viren aus Menschen und tierischen Reservoiren mit einem Schwerpunkt auf der Diagnostik neuartiger Viren in tropischen Ländern und deren Untersuchung mittels evolutionsbiologischer Methoden. Die Arbeiten werden innerhalb des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) durchgeführt und sind stark mit Feldarbeiten in Europa, Lateinamerika und Afrika verbunden. Die Arbeitsgruppe hat in den vergangenen Jahren zur Aufklärung zentraler epidemiologischer Fragen zur Ausbreitung und Pathogenese des Zika-Virus in Lateinamerika, zur Entwicklung neuer Nachweisverfahren für Gelbfieber und andere durch Mücken übertragene Viren und zur Entdeckung von SARS-Coronaviren in europäischen Fledermäusen beigetragen.
Die SARS-CoV-2-Variante My
Die My-Variante wurde im Januar 2021 zuerst in Kolumbien nachgewiesen. Dort hat sie während einer starken Infektionswelle Mitte des Jahres andere Virusvarianten vollständig verdrängt. Seit September führt die Weltgesundheitsorganisation My auf der Liste der „Variants of Interest“, also als Variante, die das Potenzial zur globalen Verbreitung hat, aber bisher nur regional begrenzt aufgetreten ist. In Deutschland wurde My bisher nur vereinzelt nachgewiesen. Im November sind erste Daten veröffentlicht worden, nach denen Antikörper im Blut von Geimpften oder Genesenen die My-Variante im Vergleich zu den Varianten Alpha, Beta, Gamma und Delta schlechter daran hindern können, menschliche Zellen zu befallen.
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