Befürworter und Gegner einer neuen Verfassung sind am Sonntag (28.) im Zentrum von Santiago de Cile in einer angespannten Situation aneinandergeraten. Die Spannungen über die am Sonntag (4. September) stattfindende Volksabstimmung über die „Nueva Constitución“ nehmen landesweit zu. Tausende von Chilenen gingen am Wochendend in verschiedenen Städten des südamerikanischen Landes auf die Straße, um die Kampagnen „Ich stimme zu“ und „Ich lehne ab“ abzuschließen. Ein Marsch von Radfahrern, die für die Verabschiedung der neuen Verfassung sind, erreichte die Plaza Italia, das Epizentrum der Proteste seit Oktober 2019 und kreuzte mit einem anderen Marsch von Menschen vom Land, die zu Pferd und in Kutschen ihre Ablehnung des Vorschlags zum Ausdruck brachten. Am zentralen Kreisverkehr in der Hauptstadt schrien sich beide Gruppen an, warfen mit Steinen und einige schlugen sogar auf die Radfahrer ein. Einem von lokalen Fernsehsendern ausgestrahlten Video zufolge überfuhr eine der Pferdekutschen mehrere Radfahrer, als sie in den Demonstrationszug für die Verfassung hineingaloppierte.
Am Samstagabend Ortszeit fand in der Küstenstadt Valparaíso bei einer öffentlichen Veranstaltung für die Option „Ich stimme zu“ für die neue Verfassung eine vermeintlich künstlerische Intervention statt, bei der eine Person eine chilenische Flagge aus dem Anus einer anderen Person zog. Der Vorfall wurde aufgezeichnet und in den sozialen Netzwerken geteilt, was zu großer Kontroverse und Ablehnung seitens der Regierung, der Opposition, der Gesellschaft im Allgemeinen und den LGBTI-Organisationen führte. Die Regierung teilte mit, dass sie die Tat bei der Staatsanwaltschaft zur Anzeige gebracht habe. Die Ereignisse fanden am letzten Wahlkampfwochenende vor dem Plebiszit am kommenden Sonntag statt. Knapp fünfzehn der fast zwanzig Millionen Einwohner Chiles werden an die Urnen gerufen, um über die Annahme oder Ablehnung der vorgeschlagenen neuen Verfassung abzustimmen.
Im November 2019, nach einer Nacht totaler Unruhen, einigten sich die politischen Kräfte – an denen der derzeitige Präsident Gabriel Boric als Oppositionsabgeordneter in der Regierung von Sebastián Piñera (2018-2022) maßgeblich beteiligt war – auf die Einberufung einer Volksabstimmung über die Verfassung. Mehr als achtundsiebzig Prozent der Chilenen sprachen sich für eine Änderung des derzeitigen Textes aus und beschlossen im Oktober 2021, dass ein Konvent aus einhundertfünfundfünfzig eigens dafür gewählten Mitgliedern mit der Ausarbeitung des neuen Textes betraut werden soll. Trotz des anfänglichen Enthusiasmus verlor der Verfassungskonvent aufgrund interner Reibereien und mehrerer Skandale, in die eine Liste von Wählern im Zusammenhang mit den sozialen Unruhen verwickelt war, nach und nach an Anhängern. Die letzten Umfragen ergaben, dass die Ablehnung des neuen Textes, der Chile zu einem sozialen Rechtsstaat erklärt und die Grundrechte festschreibt, um mehr als zehn Punkte überwiegen würde. Der plurinationale Charakter des Staates, das Justizsystem und die Abschaffung des Senats gehören zu den umstrittensten Punkten des Textes, obwohl sich die linken Kräfte darauf geeinigt haben, den Text zu ändern, falls die Option „Ich stimme zu“ gewinnt. Wird der Text abgelehnt, bleibt die derzeitige Verfassung, die während der Pinochet-Diktatur (1973-1990) ausgearbeitet und nach der Rückkehr zur Demokratie dutzende Male reformiert wurde, in Kraft.
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