Auf den ersten Blick handelt es sich lediglich um ein gedrucktes Schulbuch für den Religionsunterricht in einer fremden Sprache. Doch die Genese des 1903 in der Sprache der indigenen Mapuche erschienenen Ausgabe der „Kurzen biblische Geschichte für die unteren Schuljahre der katholischen Volksschule“ gibt besondere Einblicke in die Zeit der Missionierung durch die bayerischen Kapuziner in Chile. Ein digitales Re-Editionsprojekt der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU), das nun zum Abschluss gekommen ist, stellt besonders die ambivalente Übersetzungs- und Verbreitungsgeschichte des Werkes in den Mittelpunkt. Durch die frei verfügbare digitale Veröffentlichung leistet sie auch einen Beitrag für einen gemeinsamen Dialog über die koloniale Vergangenheit sowie für die Wiederbelebung von Sprache und Kultur der Mapuche in Chile. Das Zentralinstitut für Lateinamerikastudien (ZILAS) der KU hat daher für das Projekt mit dem Andrés-Bello-Zentralarchiv der Universidad de Chile in Santiago kooperiert.
„Wir wollen mit dem Projekt einen Beitrag zur Dekolonisierung von Missionsarchiven leisten, indem wir die interkulturellen Prozesse ihrer Entstehung aufzeigen. Die digitale Re-Edition macht ein bisher schwer greifbares Zeugnis des Austauschs zwischen den Bayerischen Kapuzinermissionaren und dem indigenen Volk der Mapuche in Südchile zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgemein zugänglich“, erklärt ZILAS-Direktorin Prof. Dr. Miriam Lay Brander. Der zugrundeliegende Band in der Mapuzugun-Sprache stammt aus der Provinzbibliothek der bayerischen Kapuziner, die 1999 an die KU überging. Für die weitere Diskussion macht das Open-Access-Format die Re-Edition sowohl im deutsch- als auch im spanisch- und englischsprachigen Raum kostenfrei verfügbar. In Lateinamerika stellt der Zugang zu kostenpflichtigen Datenbanken oder der Zugriff auf Universitätsbibliotheken schnell große Schranken dar. Zudem bietet sie zahlreiche Verlinkungen zu weiteren Archiven und Repositorien in Chile und Deutschland und ermöglicht so einen tieferen Einblick in die politischen, kulturellen und intellektuellen Verflechtungen des Themas.
„Für unser Vorhaben konnten wir mit der chilenischen Literaturwissenschaftlerin Andrea Salazar Vega zusammenarbeiten, die selbst indigene Wurzeln hat. Sie erkannte mit ihren dreisprachigen Kenntnissen schnell, dass die in Mapuzugun erschienene Fassung sowohl auf der deutschen als auch der spanischen Version des Werkes basierte, die schon Jahrzehnte zuvor erschienen waren“, schildert die Projektmitarbeiterin und Anthropologin Romy Köhler. Dies habe nahegelegt, dass zwischen den deutschen Kapuzinermissionaren und den Mapuche ein intensiver inhaltlicher Austausch zum Text des Schulbuches stattgefunden habe.
Bevor die bayerischen Kapuziner 1896 mit der Mission bei den chilenischen Mapuche begannen, waren sie nur selten in der Grundschulbildung tätig. Pater Félix José de Augusta griff daher auf ein etabliertes Werk zurück, das 1860 bereits in vierter Auflage im Herder-Verlag erschienen war. Bei diesem musste später zunächst auch eine Lizenz beantragt werden, um das Schulbuch in Mapuzugun drucken zu dürfen. Die Manuskripte gingen dafür zunächst von Chile nach Deutschland. Pater Augusta erwähnt im Vorwort kurz, dass ihm „zwei indigene Katholiken“ bei der Übersetzung „sehr effektiv“ halfen. Es scheine, schreibt Augusta weiter, dass die Übersetzung die Ausdrucksweise richtig wiedergebe: „…denn als ich sie in meiner Kapelle vorlas, unterbrachen sie mich mehrmals und riefen begeistert: Ja, ja, so sprechen die Mapuche.“
Bei den beiden Indigenen, die Pater Augusta bei der Übertragung des Textes in Mapuzugun halfen, handelte es sich um die Häuptlingssöhne Pascual Segundo Painemilla Ñamcucheu und José Francisco Kolün. Ersterer hatte seine Primarbildung zuvor schon durch italienische Kapuziner erhaltenund beherrschte das ursprünglich nur mündlich überlieferte Mapuzugun auch als Schriftsprache. Beide sprachen Spanisch. Um die Phonetik korrekt wiederzugeben, enthielt das Schulbuch eine Übersicht für korrekte Aussprache bestimmter Laute des Mapuzugun. „Auch wenn Pater Augusta im Geist der damaligen Zeit auf dem Titelblatt als alleiniger Autor der Übersetzung genannt wird, hatten die beiden Indigenen erheblichen Anteil an der interkulturellen Übersetzung. Mit der Re-Edition wird auch diese Urheberschaft wiederhergestellt“, erläutert Romy Köhler.
Die Re-Edition präsentiert das deutsche Original, die spanische und die Übersetzung in Mapuzugun in drei parallelen Spalten, um eine vierte Spalte mit den Bildern ergänzt, und ermöglicht so zukünftige textbasierte Forschung im Kontext der Kolonisation der Mapuche, in denen auch Aneignungs- und Transformationsprozesse lokaler Vorstellungen sichtbar werden. So illustriert etwa der Blick in Details des Textes ein Ringen um Begriffe und eine besondere Form von Strategie für die Mission. Denn einige Formulierungen wurden bewusst in Ausdrücke übersetzt, die dem kulturellen Umfeld der Mapuche entsprechen. „Pichi Che“ als Bezeichnung für das „Gotteskind“ beispielsweise entstammt dem familiären Umfeld und ist eine affektive Form, mit der Mütter ihre Kleinkinder ansprechen. Auch wenn bislang noch keine Dokumentation dieses Prozesses entdeckt worden ist, geht Köhler davon aus, dass zu solchen Aspekten eine eingehende inhaltliche Diskussion zwischen dem Pater und den indigenen Übersetzern stattgefunden haben muss.
Doch was waren die Beweggründe für die Missionare, ein Schulbuch in der Sprache der Indigenen herauszugeben, und warum haben die Indigenen daran mitgewirkt? In der Einleitung schreibt Pater Augusta, dass die indigenen Kinder bereits gut Spanisch sprechen und zum reinen Textverständnis keinen Text in Mapuzugun benötigten: „Aber dieser wird ihnen als Freund dienen, der sie in ihre traurigen Hütten begleitet, wo sie ihn lesen und ihren Verwandten und Bekannten, die kein Spanisch verstehen, beibringen können.“ Dies zeige, wie Romy Köhler erläutert, das unbedingte Streben der Missionare, über das Territorium der Missionsschulen hinaus bis in die Familienkerne hineinzuwirken. Gleichzeitig habe es unter den Indigenen schon früh die Tendenz gegeben, ihre Kinder in den vom chilenischen Militär besetzten Gemeinden auf Missionsschulen zu schicken. Zum einen sei es aus strategischer Sicht wünschenswert gewesen, dass die Jugendlichen institutionelle Bildung übernehmen – auch um eine spätere Diskriminierung zu vermeiden. Zum anderen habe es in den ländlichen Mapuchegemeinden anfangs als Privileg gegolten, ein Kind auf die Schule, anstatt zur Feldarbeit zu schicken.
Das in Mapuzugun verfasste Lehrbuch darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unterrichtssprache der Missionsschulen Spanisch war. „Die Mission brachte Schulbildung und Alphabetisierung in Spanisch, aber auch Entfremdung von den Eltern und Brüche mit lokalen religiösen Glaubensvorstellungen und Praktiken in einem allgemeinen Klima des Identitätsverlustes“, erläutert Köhler. Vor diesem Hintergrund verschwand das Mapuzugun als Mittel des alltäglichen Austausches zunehmend. Dies sei Autorinnen und Autoren mit indigenem Hintergrund, die in die großen Städte Chiles gezogen waren, Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend bewusstgeworden. Seitdem seien bemerkenswerte Initiativen zur Wiederbelebung der Mapuzugun-Sprache entstanden. Es ist ein Zeugnis der Kolonialgeschichte, dass gerade das untersuchte Missions-Schulbuch eines der wenigen gedruckten Zeugnisse von Mapuche-Sprache für die Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts darstellt.
Informationen zur Re-Edition
Alejandra Natalia Araya Espinoza/ Romy Susanne Köhler/ Miriam Lay Brander/ Andrea Salazar Vega (Hrsg.): Kritische digitale Re-Edition der Edition Araucana der Kurze Biblische Geschichte für die unteren Schuljahre der katholischen Volksschule in Deutsch, Spanisch und Mapuzugun. Oktober 2022.
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